Abstieg eines Vorzeigestaats
Mehr als 2,3 Millionen Venezolaner sind auf der Flucht vor Repression und Armut. Die Krise erreicht auch Spanien.
CARACAS Einst war der Staatenbund Alba das Lieblingsinstrument von Hugo Chávez, Venezuelas Revolutionsführer, um politische Entscheidungen in Lateinamerika durchzusetzen. Es sollte ein Bund sein von Nationen, die ähnlich wie Venezuela vom Sozialismus des 21. Jahrhundert regiert werden. Nun kündigte Ecuador an, den Bund zu verlassen. Offizieller Grund: die Enttäuschung über die fehlende Bereitschaft von Nicolás Maduro, dem Nachfolger des 2013 an Krebs verstorbenen venezolanischen Regierungschefs, eine Lösung für den massiven Exodus aus Venezuela zu finden.
Ecuador ist eines der Hauptziele der venezolanischen Flüchtlinge. Die Migrationsbehörde der kleinen Andennation meldet seit Jahresbeginn 570.000 Einreisen von Venezolanern. Die meisten werden bleiben. Um die Masseneinreise zu stoppen, zog die Regierung die Reißleine. Wohlwissend, dass auch die Produktion von Reisepässen in Venezuela zusammengebrochen ist, verlangt Ecuador nun die Vorlage dieses Dokuments bei der Einreise. Die Kirche ist entsetzt und fordert eine Rücknahme dieser Entscheidung.
Auch das Nachbarland Kolumbien, das die Hauptlast der humanitären Krise trägt, ist fassungslos. Denn nun drohen noch mehr als eine Million Venezolaner, die bereits im Land sind, zu bleiben. Der Erzbischof der Millionenstadt Cali forderte in dieser Woche, dass der humanitäre Notstand ausgerufen wird, damit besonders den schwangeren Frauen, Kindern und Senioren unter den Flüchtlingen geholfen werden kann.
Das Verständnis in der Bevölkerung hält sich angesichts der vielen Venezolaner, die in jüngster Zeit nach Kolumbien eingereist sind, in Grenzen. Vor allem im Niedriglohnsektor kommt es zu einem Verdrängungswettbewerb, denn die verzweifelten Flüchtlinge arbeiten für noch weniger Geld als die mit dem monatlichen Mindestlohn von umgerechnet rund 225 Euro ohnehin schon schlecht bezahlten Kolumbianer.
Die Folgen für die Region sind erheblich: Vor ein paar Tagen gab es in der brasilianischen Grenzstadt Pacaraima regelrechte Jagdszenen auf die venezolanischen Geflüchteten. Weil venezolanische Diebe einen Händler überfallen haben sollen, gerieten die Menschen in Wut und machten Jagd auf die Flüchtlinge aus dem Nachbarland. Mehr als 1000 Menschen sollen daraufhin in Panik zurück über die Grenze geflohen sein. Was sie an Hab und Gut zurückließen, zündete der Mob an. Auch nach Brasilien gab es zuletzt mehr als 130.000 Einreisen aus Venezuela, und auch hier gilt: Die meisten wollen bleiben. Der Exodus des krisengeschüttelten Landes erreicht auch Spanien. 40 Prozent der Asylanträge im laufenden Jahr kamen von Venezolanern, wie das UN-Flüchtlingshilfswerk in Madrid mitteilte. „Niemand verlässt sein Land, seine Familie, seine Kinder freiwillig“, warb Ecuadors Präsident Lenin Moreno im Kreis von venezolanischen Flüchtlingen in Quito bei seinen Landsleuten um Verständnis.
Doch das gibt es immer weniger. Die aufnehmenden Staaten Ecuador, Peru, Kolumbien und Brasilien – allesamt nicht links regiert – werden mit der humanitären Aufgabe alleingelassen. Vom Flüchtlingshilfswerk der UN und der katholischen Kirche einmal abgesehen, gibt es von der internationalen Staatengemeinschaft kaum Unterstützung. Keine Spendenaufrufe von Prominenten, keine Solidaritätsadressen von europäischen Menschenrechtsorganisationen.
Die Venezolaner verlassen ihre Heimat wegen der katastrophalen Versorgungslage und der brutalen Unterdrückung der Opposition, der trotz eines klaren Sieges bei den Parlamentswahlen Ende 2015 nahezu jede Möglichkeit genommen wurde, Einfluss auf die politische Entwicklung zu nehmen. Maduro, der bei der jüngsten Präsidentschaftswahl ohne die Konkurrenz der härtesten Rivalen der Opposition antrat, weil denen eine Kandidatur untersagt wurde, will nun mit einer Wirtschaftsreform das Ruder herumreißen: Mit einer deutlichen Abwertung der Währung, einem neuen „Bolívar“, der an die Kryptowährung Petro gekoppelt ist, die wiederum an die Ölreserven gebunden ist. Fünf Nullen hat das Land über Nacht von den Geldscheinen gestrichen.
Es ist wohl die letzte Chance, die Wirtschaft des Landes in den Griff zu bekommen. Doch die Nerven liegen angesichts der Hyperinflation blank: Am Donnerstag wurden bereits sieben Geschäftsleute festgenommen, die es gewagt hatten, die festgesetzten Preise zu erhöhen. Im Wahlkampf hatte Maduro seinen Landsleuten versprochen, dass Venezuelas beste Jahre noch bevorstehen. Für die, die geblieben sind oder bleiben mussten, ist dieses Versprechen die einzige Hoffnung.