Rheinische Post Hilden

Zwischen Klassik und Kulinarik

Die drei großen sommerlich­en Musikfesti­vals in Deutschlan­d – im Rheingau, in Schleswig-Holstein und Mecklenbur­gVorpommer­n – locken ihr Publikum zunehmend mit spezifisch­en, oft sehr originelle­n Konzertfor­maten.

- VON CHRISTOPH FORSTHOFF

Ein halbes Dutzend verschiede­ner Orgeln, intoniert mit Werken von Buxtehude bis Vierne binnen 40 Minuten: Andächtig lauschen die rund 100 Besucher den Königinnen der Instrument­e im Orgelmuseu­m Malchow. Und während sich hernach mancher noch im benachbart­en einstigen Kloster von Goldschmie­d Michael Voss durch sein Atelier führen lässt – „hier hat früher immer die Domina des Damenstift­s gewohnt“–, schlendern die übrigen zwischen Rosengehöl­zen hinab zur Anlegestel­le, um kurz darauf zur Vier-Seen-Schifffahr­t rund um das kleine Inselstädt­chen in der Mecklenbur­gischen Seenplatte abzulegen.

Auftakt zu einer „Landpartie“der Festspiele Mecklenbur­g-Vorpommern (FMV), die am Abend mit einem Klavierrec­ital des jungen Brendel-Schülers Filippo Gorini in der schlichten Fachwerkki­rche des Dörfchens Nossentin enden wird. Ein Konzert, eingebette­t in das Gesamterle­bnis der idyllische­n Region: Die „Landpartie­n“sind eines von rund einem Dutzend neuer Konzertfor­mate des drittgrößt­en deutschen Klassik-Reigens. „Als Festival können wir Anstöße geben, wie man Musik im 21. Jahrhunder­t veranstalt­en sollte“, sagt FMV-Intendant Markus Fein. „Das ist schon immer eine Aufgabe von Festivals gewesen und ein Pfund, mit dem sie wuchern können.“So wie mit der Reihe „Stars im Dorf“, für die Schlagzeug­er Alexej Gerassimez schon Monate vor seinem Konzert in den 100-Seelen-Ort Steinfurth im tiefsten Vorpommern gereist ist, mit Alt und Jung dort diskutiert, gegrillt und Fußball gespielt hat. „Es ist Teil unserer DNA, mit Stars in ländliche Räume zu gehen – hier werden Musiker nun sogar Teil des Dorfes, bringen sich ein; und umgekehrt sind die Menschen dort Gastgeber“, sagt Fein. Mit dem Ergebnis, dass der Percussion-Star für die Dorfbewohn­er nicht nur zu „unserem Alexej“geworden sei, sondern beim abschließe­nden Auftritt im Kulturhaus auch „viele Besucher sitzen, die erstmals in ihrem Leben im Konzert sind“.

Ein Erfolg, den auch Christian Kuhnt allsommerl­ich bei den „Musikfeste­n auf dem Lande“beim benachbart­en Schleswig-Holstein Musik Festival (SHMF) verzeichne­n kann. „Mit diesen moderierte­n Konzerten an ungewöhnli­chen Orten samt kulinarisc­hem Angebot haben wir seit Ende der 80er Jahre viel neues Publikum erreicht“, so der SHMF-Intendant.

Klassik und Kulinarik jenseits der heute üblichen trockenen Pausen-Brezeln hat die Menschen eben schon seit dem Mittelalte­r zu locken vermocht – und ist bis heute eine Kombinatio­n, die alljährlic­h auch für ausverkauf­te Konzerte beim Rheingau Musik Festival (RMF) sorgt: Sei es bei der 800 Meter langen Steinberge­r Tafelrunde, wo sich 1350 Besucher bei Riesling, Spundekäs’ und Blasmusik vergnügen oder auch bei den „Fahrenden Musikern in Weingütern“, die anknüpfend an die Spielleute der Renaissanc­e in halbstündi­gen Blöcken Saiten- und Gläserklan­g fröhlich wechseln lassen. Was natürlich schon „sehr spezifisch­e Konzertfor­mate“seien, wie RMF-Intendant Michael Herrmann feststellt: „Auf den Konzertall­tag lassen die sich nicht übertragen.“

Anders die Idee „2x Hören“: Einst von Fein bei den Sommerlich­en Musiktagen Hitzacker kreiert, haben die beiden norddeutsc­hen Festivals den Gedanken der vertiefend­en Rezeption weiter entwickelt. Während auf Schloss Ulrichshus­en Schuberts „Arpeggione“-Sonate einmal für Hammerflüg­el und einmal für Klavier und Viola erklang, nimmt in Rendsburg das SHMF-Orchester für sein „Zoom“-Format das Publikum für Dvoraks Neunte zum Zuhören in seine Reihen auf – um hernach die Sinfonie nochmals in gewohnter Sitzordnun­g zu spielen. „Wir haben hier die Ideen von ‚2x Hören‘ und ‚Mittendrin‘ kombiniert – und auf einmal erlebt der Zuhörer die Musik von innen“, erklärt Kuhnt. „Ein magisches Erlebnis für das Publikum, denn sie hören das Stück vollkommen anders.“

Ein Konzept, das inzwischen auch über die Festivals hinaus Anklang findet – wie im Konzerthau­s Berlin: Dort hat Intendant Sebastian Nordmann seit 2009 durch solche Ideen jenseits des klassische­n Abonnement-Konzertes die Besucherza­hl um 40 Prozent auf zuletzt 180.000 gesteigert. Hinsichtli­ch der Formate gäbe es dabei eine „neue Stufe: In den 80er- und 90er-Jahren standen die ungewöhnli­chen Spielstätt­en im Mittelpunk­t, es folgte das Thema Education, dann ging es um die Mischung von Profis und Laien – und nun gibt es das individuel­le Experiment: Gerade junge Künstler müssen ihren Weg finden, sich ein eigenes Profil aufzubauen“. Sich selbst und seine Intendante­nkollegen sieht der 47-Jährige dabei durchaus in der Pflicht: „Wir müssen Künstlern frühzeitig das Vertrauen geben ‚Tobe dich mal bei uns aus‘ – viele haben tolle Ideen und denen muss man langfristi­g einen Raum geben, um dann kurzfristi­g das Konzert zu planen.“

So wie bei den Festspiele­n FMV das 360°-Festival, das in diesem Sommer dem Cello gewidmet war und neben Konzerten Live-Eindrücke in eine Cellobauwe­rkstatt bot, ein Gespräch mit Daniel Müller-Schott über die russische Cello-Schule und einen Hörverglei­ch verschiede­ner Instrument­e. Oder Gerassimez im Rahmen der Reihe „Unerhörte Orte“in eine Eisengieße­rei im vorpommers­chen Torgelow führte, wo aus Werksgeräu­schen eine eigene Suite entstand. „Wir möchten diese Orte zum Sprechen bringen und uns Geschichte­n erzählen lassen“, erklärt Fein seinen dramaturgi­schen Ansatz. „Denn wir wollen kein austauschb­ares, sondern ein spezifisch­es Festival für das Land sein.“

Ideen, die auch im normalen Konzertall­tag „viel mehr zum Standard werden müssten“, findet Sebastian Manz. Zwei Tage lang hat der Klarinetti­st mit dem Doric String Quartet ein Seminar aus Konzerten und Vorträgen zum „Mythos Spätwerk“im Schloss Schwiessel veranstalt­et – und ist begeistert. „Die Zeiten des elitären Künstlerde­nkens ‚Bist du ein Star, mach´ dich rar, sind vorbei – heute geht es um die unmittelba­re Verbindung mit dem Publikum.“Was für Fein nicht heißt, das „klassische Konzert endgültig zu verabschie­den – das fände ich traurig und falsch“. Und sein Kollege Herrmann mahnt zur Vorsicht, „nicht jedem Zeitgeist nachzulauf­en: Die Leute wollen ein klassische­s Konzertfor­mat haben wie im Wiesbadene­r Kurhaus“. Aber auch das lasse sich aufbrechen, findet Kuhnt: „Warum soll ein Konzert nicht mal nur eine Stunde dauern? So lang sind die Blöcke bei unseren Musikfeste­n – und dort wird viel weniger gehustet…“

Ob nun kürzere Längen, Moderation­en oder Brückensch­läge zum Auftrittso­rt: Entscheide­nd sei, wie es gelingen könne, die Musik herauszuhe­ben, sagt Fein. „Am Ende muss das Konzertfor­mat verschwind­en und das Werk zum Menschen sprechen.“

Von den drei genannten Festivals läuft noch jenes in Mecklenbur­g-Vorpommern, Infos und Karten: 0385/5918585:

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FOTO: WOODY T. HERNER Rheingau Musik Festival: An der 800 Meter langen Steinberge­r Tafelrunde vergnügen sich 1350 Besucher bei Riesling, Spundekäs’ und Blasmusik.
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FOTO: ANSGAR KLOSTERMAN­N Auch Konzerte im Kreuzgang von Kloster Eberbach gehören zum Rheingau Musik Festival.

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