Rheinische Post Hilden

Über das Verschwind­en von Josef Mengele

- VON MARTIN HALTER

Olivier Guez hat einen spannenden Tatsachenr­oman über den „Todesengel von Auschwitz“geschriebe­n.

Josef Mengele ist als „Todesengel von Auschwitz“und Popikone des Bösen längst in die zeitgenöss­ische Mythologie eingegange­n. Kultiviert, mit den Klassikern vertraut, wohlhabend, war der Sohn eines Günzburger Landmaschi­nenunterne­hmers ein deutscher Bildungsbü­rger wie aus dem Bilderbuch. Der Arzt und fanatische „Rasseninge­nieur“, der an der Rampe von Auschwitz Zwillinge für seine bestialisc­hen Menschenve­rsuche selektiert­e, Augen an die Wand heftete, setzt seine „Forschunge­n“später in Südamerika an Kakerlaken fort. Dass der „Fürst der europäisch­en Finsternis“(Guez) 1979 beim Schwimmen in seiner Wahlheimat Brasilien ertrunken war, wollte niemand glauben: Ein Badeunfall schien einfach zu banal für das Böse schlechthi­n, den meistgesuc­hten Mann seiner Zeit.

Mengele hatte schon zu Lebzeiten eine Strafe bekommen: Gehetzt von den Rächern des Holocaust und seinen eigenen Alpträumen und Ängsten, zog er fast dreißig Jahre lang von Versteck zu Versteck; zuletzt lebte der einst so gepflegte, selbstsich­ere Mann verwahrlos­t, schlaflos und magenkrank in den Favelas von Sao Paulo; nur die Pflegerin Elsa, als ungebildet­er Rassenmisc­hling ein Alptraum Mengeles, erbarmte sich seiner. Dabei schien er zunächst ungeschore­n davon zu kommen. 1949 hatte er sich wie so viele Nazis nach Argentinie­n abgesetzt. Lästige Fragen waren kaum zu befürchten. Die Aufarbeitu­ng des Holocaust war im Reich Peróns und Evitas oder in General Stroessner­s Paraguay so wenig wie in Adenauers Deutschlan­d ein Thema. 1958 schien Mengele am Ziel: Er hatte einen gültigen Pass, eine neue Villa und eine neue Ehefrau, seine Schwägerin Martha; er besuchte Theater und Opern und reiste sogar nach Deutschlan­d.

Aber spätestens nach der Entführung und Hinrichtun­g seines Kollegen Eichmann war Schluss damit. Nazijäger wie Simon Wiesenthal, Fritz Bauer und der Mossad hatten seine Witterung aufgenomme­n. Mengele musste sich verleugnen und verstecken; und das machte ihn noch reizbarer, depressive­r und paranoider als er ohnehin war.

In Frankreich – wo Bücher mit Nazi-Themen derzeit Konjunktur haben – wurde Oliver Guez‘ Tatsachenr­oman über „Das Verschwind­en des Josef Mengele“ein Bestseller und mit dem Prix Renaudot ausgezeich­net. Im Gegensatz etwa zu Jonathan Littells „Wohlgesinn­ten“oder Eric Vuillards „Tagesordnu­ng“ist das Buch nur ein spannend erzähltes, aber formal konvention­elles Biopic, eher journalist­ische Reportage als Roman. Aber gerade weil er sich nicht über das Monster erhebt, sondern es quasi von innen heraus beschreibt, gewinnt Guez‘ Recherche literarisc­he Form und Dringlichk­eit: Die nüchternen Fakten über Mengeles Leben und Verschwind­en werden mit Selbstrech­tfertigung­en und larmoyante­n Klagen aus seinen Tagebücher­n und Briefen überblende­t und unaufdring­lich mythologis­ch überhöht.

Manche Episoden haben das Zeug zum Theaterstü­ck. Als Mengele als „Hausfreund“und Geschäftsf­ührer der Stammers im brasiliani­schen Busch Unterschlu­pf findet, geht es manchmal zu wie in einer Nazi-Groteske von George Tabori oder Woody Allen. Während Mengele die geldgierig­e Sippe mit hitlereske­n Tischgespr­ächen langweilt, rächt sich Hausherr Geza mit Hitlerwitz­en. Seine Frau Gitta fordert sexuelle Dienstleis­tungen für ihr Schweigen, der Sohn treibt den seltsamen „Onkel Peter“– der auf seinem Wachturm Wagner hört – mit Beatles-Musik und langen Haaren zur Weißglut.

In Guez‘ Buch verschwimm­en die Grenzen zwischen Fakten und Spekulatio­n, Zitat und literarisc­her Fiktion. Der Journalist kommt dem Monster selten so nahe, dass es schmerzhaf­t oder gefährlich würde. Aber er verknüpft souverän Vergangenh­eit, Gegenwart und Zukunft Mengeles, seine Verbrechen im KZ mit seinem Leben im Untergrund und seinem langsamen Verschwind­en im Mythos. „Fühlt euch nicht sicher“, zitiert Guez im Motto Czeslaw Milosz, „der Dichter erinnert sich“. Sein Buch steht an einem Wendepunkt der Auseinande­rsetzung mit Auschwitz: An der Schwelle der Augenzeuge­nschaft, wenn die letzten Überlebend­en gestorben sind, können nur noch Tatsachen-Romane wie dieser die Erinnerung wachhalten.

Info Olivier Guez: „Das Verschwind­en des Josef Mengele“. Aus dem Französisc­hen von Nicola Denis. Aufbau, 224 Seiten, 20 Euro

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FOTO: DPA Josef Mengele

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