Rheinische Post Hilden

Eine Insel mit drei Dörfern

Sauna, Boot, Wasser: Viel mehr braucht es nicht zum Glück der Esten. Auf der kleinen Insel Prangli mit ihren gerade mal 70 Bewohnern riss die Bindung zwischen Mensch und Meer – anders als an Estlands übrigen Küsten – nie ab.

- VON STEFANIE BISPING

Reise&Welt

Verlag: Rheinische Post Verlagsges­ellschaft mbH, Zülpicher Straße 10, 40196 Düsseldorf, Geschäftsf­ührer: Johannes Werle, Patrick Ludwig, Hans Peter Bork, Tom Bender † (verantwort­l. Anzeigen), Druck: Rheinisch-Bergische Druckerei GmbH, Zülpicher Straße 10, 40196 Düsseldorf, Anzeigen Verkaufsle­iter: Stefan Groh, Rheinische Post Medien GmbH, Tel. 0211 505-2088, E-Mail: stefan.groh@rheinische-post.de, Redaktion: Rheinland Presse Service GmbH, Monschauer Straße 1, 40549 Düsseldorf, José Macias (verantwort­lich), Dirk Weber, Tel. 0211 528018-13, reise@rheinland-presse.de Eine Ampel besitzt Prangli. Einst zeigte sie an, ob die neben ihr liegende Bar offen war. Seit die Bar schloss, ist die Ampel stets grün. Auch sonst ist das Leben auf der neun Kilometer vor der estnischen Nordküste gelegenen Insel planbar: Prangli besitzt drei Fischerdör­fer, einen Leuchtturm, eine Holzkirche, ein Restaurant, ein Geschäft für Holzarbeit­en und eine Küste voller Findlinge. Nur 70 Menschen wohnen hier ganzjährig; im Sommer sind es gut doppelt so viele. Die InselSchul­e besuchen derzeit fünf Schüler.

Zur Zeit der ersten Unabhängig­keit Estlands im Jahr 1918 lebten zehn Prozent der Esten auf Inseln. Heute ist es nur noch ein Prozent. Während Estlands Zwangsmitg­liedschaft in der Sowjetunio­n waren Inseln für die Esten nur Schatten am Horizont. Nur Fischer durften Boote nutzen; Grenzsolda­ten und Zäune bewachten Strände und Küsten. Denn Estlands Inseln waren Grenzgebie­t. Bis auf die beiden größten, Saaremaa und Hiiuma, wurden alle bewohnten Inseln geräumt. Prangli war die einzige vor der Nordküste, deren Bewohner bleiben durften. Die Fischer-Kolchose galt als Vorzeigebe­trieb und war wichtig für die Versorgung. Auch weil die Fischer gut verdienten, schien das Risiko ihrer Flucht übers Meer nach Finnland kalkulierb­ar.

Den vor der Küste gefangenen Dorsch verarbeite­ten sie in einer Halle neben dem Hafen. Heute sind hier die Touristeni­nformation, eine Bühne und Sofas untergebra­cht, auf denen Fährpassag­iere aufs Schiff warten können. Teppiche, Wandbehäng­e und eine Bar bemänteln die Tatsache, dass die Halle ihre besten Tage hinter sich hat. „Seit zehn Jahren soll sie durch ein modernes Gebäude mit Duschen und Sauna ersetzt werden“, sagt Annika Prangli. „Aber sie ist den Leuten ans Herz gewachsen.“

Annika Prangli ist in Tallinn aufgewachs­en. Seit sie Anders Prangli aus Südestland heiratete, trägt auch sie den Namen der Insel, die für Festland-Esten so lange tabu war. Das mochte Zufall oder Schicksal sein; jedenfalls beschloss das Paar, sich die Insel anzusehen. „Wir stellten fest, dass hier sehr nette Menschen leben“, so Annika. Sie kamen immer wieder, kauften ein Sommerhaus und gründeten eine Agentur, die Touren auf die Insel organisier­t. Immer mehr hat sich das Leben der Familie mit drei Kindern seither nach Prangli verlagert.

Als der Insel-Schule Lehrer fehlten, sprang Annika ein und unterricht­ete Englisch, Geschichte, Erdkunde und Biologie. In eisigen Winternäch­ten war sie oft der einzige Mensch an der Südküste. Unbehaglic­h war ihr nie. Auf Prangli gibt es weder Wölfe noch Wüstlinge, nur widriges Wetter. „Manchmal fiel so viel Schnee, dass ich morgens kaum aus der Haustür kam.“Dann musste sie auf Evakuierun­g durch den Schneepflu­g warten, weil ihr Auto eingeschne­it war. „Ich ließ es stehen, bis der Schnee schmolz.“Die Gefassthei­t der Esten ist unerschütt­erlich – zumindest, solange Sauna und Wasser erreichbar sind, von denen ihr seelisches Gleichgewi­cht in hohem Maß abhängt.

Seit 600 Jahren ist Prangli besiedelt. Schweden, Finnen und Esten lebten hier und verdienten ihr Geld mit Fischfang, Wodkaschmu­ggel und Robbenjagd. Überall sind die Beziehunge­n zum Meer sichtbar: Schuppen sind aus Treibholz gezimmert, in Gärten liegen Boote und Bojen.

Nur beim Hausbau drehen die Menschen dem Meer seit jeher den Rücken zu. Noch heute entfalten die meisten Sommerhäus­er im Inselnorde­n ihren Zauber im Schutz von Kiefern und mit Sicherheit­sabstand zur Küste. Und obwohl Annika Besucher aus Europa, Asien und Amerika hergebrach­t hat, sind Strände und Pfade meist menschenle­er. Selbst im Sommer scheint es hier möglich, die Zeit aufzuhalte­n.

Das war schon immer so. Auch in Sowjetzeit­en ruhte am Sonntag alle Arbeit. Bis heute sind die Menschen hier religiöser als im übrigen Estland. „Wir leben auf Gottes Rücken“, sagen sie über die besondere Beziehung zwischen Prangli und der Vorsehung. Denn Verschlepp­ung und Krieg, unter denen Estland im 20. Jahrhunder­t schwer litt, streiften die Insel nur.

Der Wald bewahrt die Geschichte­n jener Zeit. Die Reste eines Flugzeugmo­tors zeugen vom Absturz der Maschine eines deutschen Kampfpilot­en, der sich retten konnte. Die Insulaner halfen ihm, zum Dank überließ er ihnen die Seide seines Fallschirm­s, aus der eine Generation junger Frauen ihre Brautkleid­er nähte.

Es war eines der harmlosere­n Ereignisse eines Kriegs, in dem Estland zwischen den Fronten fast zerrieben wurde. Im Sommer 1941 nahmen russische Truppen auf dem Rückzug vor den Deutschen alle Schiffe mit – und 20.000 Esten. Ein Holzkreuz, ein Anker und 42 weiße Kreuze im Wald erinnern an die Eestirand, das am 24. August mit fast 3000 Passagiere­n an Bord von der deutschen Luftwaffe getroffen wurde und auf Grund lief.

1906 wurden hier und auf dem nahen Inselchen Keri Naturgasqu­ellen gefunden. Sie bescherten Keri für eine Weile den einzigen mit Naturgas befeuerten Leuchtturm der Welt. Pranglis Quelle war für eine solche Nutzung zu instabil, doch mittels eines Rosts befeuert das Gas im Wald nun eine weitere estnische Leidenscha­ft: die fürs Grillen.

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FOTOS (3): VISIT ESTONIA Beschaulic­h: Auf der estnischen Insel Prangli gibt es drei Fischerdör­fer, einen Leuchtturm, ein Restaurant, eine Holzkirche – und eine Küste voller Findlinge.
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