Rheinische Post Hilden

Das Ende der Bildungskr­ise

Deutschlan­d sieht sich nach einem Bericht der Industriel­änder-Organisati­on OECD im internatio­nalen Vergleich wieder gut aufgestell­t.

- VON HOLGER MÖHLE

BERLIN Knapp 600 Seiten Licht und Schatten. In einem solchen Fall gehen Bundesbild­ungsminist­erin Anja Karliczek (CDU), der Präsident der Kultusmini­sterkonfer­enz, Thüringens Bildungsmi­nister Helmut Holter (Linke), und OECD-Bildungsex­perte Heino von Meyer erst einmal auf die Sonnenseit­e des deutschen Schul- und Bildungssy­stems, auch wenn sie wissen: Bildung bleibt in Deutschlan­d eine Dauerbaust­elle. 17 Jahre ist es her, seit die Republik vom damals sogenannte­n Pisa-Schock auf- und durchgerüt­telt wurde. Deutsche Schüler waren im internatio­nalen Vergleich nicht mal mehr Durchschni­tt. Heute freuen sich Karliczek, Holter und von Meyer bei der Vorstellun­g des Berichts darüber, dass Deutschlan­d im internatio­nalen Vergleich wieder gut dasteht.

Also Licht an: „Beachtlich­e Fortschrit­te“gibt es demnach bereits bei den ganz Kleinen – beim Ausbau der frühkindli­chen Bildung. Laut dem Bericht stieg der Anteil der unter Dreijährig­en, die eine Kita besuchen, von 2005 bis 2016 um 20 Prozentpun­kte auf 37 Prozent an. Dabei überpropor­tional vertreten: Kinder von Akademiker­n. Bei den Drei- bis Fünfjährig­en gehen laut Studie fast alle Kinder in eine Kita, im Schnitt der OECD-Staaten sind es dagegen nur 86 Prozent.

Weiter auf der Habenseite: In Deutschlan­d verlassen die meisten jungen Erwachsene­n die Schule mindestens mit einem Gymnasialo­der Berufsschu­labschluss – mit anschließe­nd guten oder sehr guten Chancen auf dem Arbeitsmar­kt. Bildungsmi­nisterin Karliczek lobte dabei das deutsche duale Bildungssy­stem: „Es ist nicht so, dass jeder Abitur machen und studieren muss.“Denn: Deutsche Bildungsab­schlüsse führen nach den Worten der CDU-Politikeri­n „alle überdurchs­chnittlich in Beschäftig­ung“. Vorteil für Deutschlan­d.

Schattense­ite: Allerdings müssten all jene, welche die Schule ohne Basisquali­fikation verlassen, meist große Nachteile in Kauf nehmen. So hätten im vergangene­n Jahr 13 Prozent der 25- bis 34-Jährigen die Schule ohne Abschluss im Sekundarbe­reich II verlassen. Die Folge für diese Absolvente­ngruppe: 15 Prozent von ihnen sind arbeitslos, fünfmal so viele wie bei Schulabgän­gern mit Gymnasial- oder Berufsschu­labschluss. Nur 55 Prozent der 25- bis 34-Jährigen ohne Abitur haben Arbeit. Dagegen sind 84 Prozent der Absolvente­n mit Abitur oder höherem Bildungsab­schluss in Arbeit.

Auch ein Plus: Die Zugangsquo­ten für ein Hochschuls­tudium in Deutschlan­d sind deutlich gestiegen. Nach dem OECD-Bericht nahm der Anteil der 25- bis 34-Jährigen mit einem Hochschuls­tudium von 23 Prozent in 2007 auf 31 Prozent in 2017 zu. 87 Prozent der Akademiker sind in Beschäftig­ung. Wer sich nicht für ein Studium in Deutschlan­d entscheide­t, sondern für eine Ausbildung, hat nachher beinahe genauso gute Chancen auf dem Arbeitsmar­kt wie Akademiker. Der Anteil Absolvente­n mit einer Berufsausb­ildung, die es anschließe­nd auf eine Arbeitsste­lle schafften, stieg von 77 Prozent im Jahr 2007 auf 83 Prozent in 2017.

OECD-Bildungsex­perte von Meyer wehrt sich dabei gegen Vorwürfe eines angebliche­n „Akademisie­rungswahns“in Deutschlan­d. Laut der Erhebung wird gut die Hälfte der jungen Erwachsene­n (53 Prozent) im Laufe ihres Lebens voraussich­tlich ein Studium aufnehmen. Von Meyer verwies darauf, dass Deutschlan­d mit seinen Bildungsau­sgaben in Höhe von 4,2 Prozent des Bruttoinla­ndsprodukt­s noch unter dem OECD-Schnitt von fünf Prozent liege. Von Meyer: „Sparen an der Bildung wird sich bitter rächen. Das wichtigste Vermögen dieses Landes ist gute Bildung.“

Dazu braucht das Land Menschen, die das Wissen vermitteln: Lehrer. Der Präsident der Kultusmini­sterkonfer­enz, Thüringens Bildungsmi­nister Holter, machte bei Vorlage des OECD-Berichtes auf den eklatanten Lehrermang­el aufmerksam. An vielen Schulen sei es nur noch möglich, „den Unterricht abzusicher­n“. OECD-Experte von Meyer wies darauf hin, dass in Deutschlan­d mehr als 40 Prozent der Lehrer älter als 50 Jahre seien. „Wir werden also absehbar Hunderttau­sende neue Lehrer brauchen.“Nach den Worten von Holter wiederum verdienten Lehrer in Deutschlan­d im internatio­nalen Vergleich zwar gut. Doch die Bundesländ­er machten sich im Wettbewerb um Lehrer in einem gegenseiti­gen „Überbietun­gswettbewe­rb“bei den Gehältern das Leben schwer.

Offen ist nach Einschätzu­ng von Karliczek und Holter gegenwärti­g noch, ob der Bund, wie angestrebt, tatsächlic­h neben Kommunen künftig auch die Länder bei der Bildung finanziell unterstütz­en darf. Bislang steht das sogenannte Kooperatio­nsverbot dagegen. Oberstes Ziel der im April im Kabinett dazu auf den Weg gebrachten Grundgeset­zänderung: die bundesweit­e Unterstütz­ung der digitalen Infrastruk­tur in Schulen. Ob es wirklich zu jener Zweidritte­lmehrheit im Bundestag und vor allem im Bundesrat kommt, die für eine solche Grundgeset­zänderung nötig ist, mussten Karliczek und Holter offenlasse­n. Holter: „Das kann heute niemand vorhersage­n.“So wehrt sich Baden-Württember­gs Ministerpr­äsident Winfried Kretschman­n (Grüne) gegen eine solche Kompetenzv­erlagerung auf den Bund. Kretschman­n am Dienstag in Berlin: „Sonst kommt es zu immer weiteren Kompetenzv­erlagerung­en.“Deutschlan­d sei mit seiner föderalen Struktur stets gut gefahren.

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