Rheinische Post Hilden

Pfaffs Hof

- Von Hiltrud Leenders

Außerdem hatte er ein Spiel erfunden, das er nur mit mir spielte. „Komm mal her“, rief er mich, „wir spielen ,Opa und Annemie’!“

Dann stellte ich meine kleinen Füße auf seine großen, er hielt mich mit seinen riesigen Händen ganz fest, und wir marschiert­en los – mal vorwärts, mal rückwärts oder im Kreis herum, wie ein einziger Mensch.

Opa war fast zwei Meter groß – man mochte kaum glauben, dass er Gustes Bruder war.

Aber er war warm und fröhlich und immer nett zu allen.

„Ein Kerl wie ein Baum, aber ein Herz wie ein Waldbeerst­rauch“, sagte Vater, der schon vor dem Krieg mit Opa zusammen im Gefängnis gearbeitet hatte. In einem Zuchthaus, wo man nur arbeiten durfte, wenn man ein sehr guter Beamter war. Denn es war ein Gefängnis, in dem nur gefährlich­e Schwerverb­recher saßen, solche, die viele Menschen umgebracht hatten.

Und weil Opa Mitleid mit „dem armen Kerl, weit weg von zu Haus“gehabt hatte, war er darauf gekommen, ihn zu sich und seiner Familie nach Hause einzuladen.

Und so hatten Vater und Mutter sich kennengele­rnt.

Mutter sang manchmal ein Lied über einen solchen Massenmörd­er:

„Warte, warte nur ein Weilchen, dann kommt Haarmann auch zu dir. Mit dem kleinen Hackebeilc­hen und macht Hacke-, Hacke-, Hackemus aus dir.“

Mit dem Lied hatten ihre Brüder ihr, als sie alle noch Kinder gewesen waren, immer Angst eingejagt.

Auch ich bekam eine Gänsehaut, wenn sie es so leise und unheimlich sang – schön gruselig.

Opa war vor ein paar Wochen pensionier­t worden und freute sich, dass er jetzt viel mehr Zeit für seinen Garten haben würde.

Er hatte Mutter versproche­n, ein paarmal in der Woche zu kommen, um ihr beim Einwecken zu helfen, weil sie doch wegen Dirk nicht so viel Zeit hatte.

Darauf freute ich mich schon, denn Opa war der Einzige, der mich richtig mithelfen ließ. Er brachte nicht nur sein eigenes scharfes Küchenmess­er mit – „Metz“nannte er es –, sondern auch eins für mich, und wenn Mutter Angst kriegte, sagte er nur: „Wenn man es ihr richtig zeigt, dann passiert auch nichts“, lächelte mit den Augen und zwinkerte mir zu.

Opa sprach nie vom Krieg.

Fast alle Männer, die ich kannte, fingen irgendwann, wenn sie zusammensa­ßen, an, von „der Front“zu reden, vom „dreckigen Polack“und vom Italiener, der „eine große Klappe“hatte, aber wenn es drauf ankam, „die Beine in die Hand nahm und Fersengeld gab“. Und von Stalingrad und wie Vater „wie durch ein Wunder noch rausgekomm­en“war, aber tagelang „nur über Leichen“hatte steigen müssen.

Opa sagte gar nichts.

Deshalb hatte ich ihn auch irgendwann einmal gefragt: „Warst du nicht im Krieg?“

„Doch, sicher.“Er hatte vor sich hin geguckt. „Ich war in Frankreich, in Biarritz.“Und dann hatte er mir zugezwinke­rt. „Da war es so schön, so warm und das Meer . . . Das hätte ich sonst nie erlebt . . .“

Vater hatte unser Haus im Dorf auch gebaut, damit Omma und Opa zu uns ziehen konnten. Denn Omma war krank und konnte allein nicht mehr alles bewältigen.

So kamen sie dann zu uns in die obere Wohnung, meine Großeltern. Und ich kam zu Omma.

Da war ich ein Jahr alt.

Mutter musste ja in der Gärtnerei arbeiten, damit wir das Haus abbezahlen konnten.

Und als ich alt genug war, konnte ich alles, was Omma nicht mehr konnte.

Opa züchtete Kaninchen. Am Wall hinter unserem Haus hatte er Ställe gebaut. „Russen“züchtete er, und Omma hatte immer wieder darüber lachen müssen – „Ausgerechn­et Russen!“Kaninchenz­ucht war schwer.

Obwohl Opa für viel Geld einen guten Rammler gekauft hatte, den er mit einer Spezialmis­chung fütterte, und obwohl er auf Kaninchena­usstellung­en besonders schöne Häsinnen aussuchte, lief es mit der Zucht meistens nicht so, wie er sich das vorstellte. Die Jungen hatten ganz oft schwarze Härchen an den falschen Stellen und wurden dann sonntags gegessen.

Ich durfte sie mit Opa schlachten, aber das durfte keiner wissen.

Heute kam Opa, um seinen neuen Enkelsohn kennenzule­rnen.

Mit seiner neuen Frau, die ich Tante Meta nennen sollte.

Wegen ihr hatte Mutter wochenlang geweint, und Tante Liesel hatte sich aufgeregt: „Unsere Mutter ist noch kein Jahr unter der Erde, und der schleppt schon ein neues Weib an!“

Opa hatte Tante Meta über seine Kollegen am Gefängnis kennengele­rnt und sie schnell geheiratet und zu sich in seine und Ommas Wohnung in unserem Haus geholt.

Das war die Zeit gewesen, in der Mutter so viel geheult hatte. „Hör dir das nur mal an, wie die da oben rumstöckel­t – tack, tack, tack –, dabei wird man doch verrückt!“

Omma war nicht herumgestö­ckelt, sie war hüftgelähm­t gewesen.

Tante Meta war eine Witwe mit zwei erwachsene­n Kindern – Tante Lieselotte und Onkel Rudi.

Sie kam eigentlich aus Königsberg, und sie war ziemlich hässlich mit der langen Oberlippe, dem Bartschatt­en und dem viel zu dicken Po. Und als Opa sie zum ersten Mal mitgebrach­t hatte, war sie geschminkt gewesen! Vor lauter Schock hatte Mutter während des Kaffeetrin­kens kein Wort gesagt.

Aber als Opa und Tante Meta wieder gegangen waren, war sie sofort mit mir zu Bertrams rübergelau­fen und hatte Tante Liesel angerufen. „Wie vom Tingeltang­el!“

Opa hatte wohl auch keine geschminkt­e Frau gewollt, denn das nächste Mal hatte Tante Meta normal ausgesehen.

Nur noch ein bisschen hässlicher. Sie hatte mir einmal erzählt, dass sie als junge Frau in Königsberg in einer Parfümerie gearbeitet und man dort von ihr erwartet hatte, dass sie sich schminkte und immer gut roch.

Tante Meta war ganz anders als Opa, kein bisschen gemütlich, aber ich hörte ihr gern zu, denn sie konnte spannend erzählen.

Von ihrem Vater, der „Kapitän zur See“gewesen war, ihrer Flucht „übers Haff“und vom „Treck“. Dabei rollte sie das „r“, wie die Leute im Dorf, nannte mich „Marjellche­n“und benutzte Wörter, die ich noch nie gehört hatte und über die ich nachdenken konnte.

(Fortsetzun­g folgt)

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