Rheinische Post Hilden

Der Wert des Meistertit­els

David Reingen erhielt den Förderprei­s der Jonges – und Gert Kaiser sprach über „Akademisie­rungszwang“. Seine Rede im Wortlaut.

- VON GERT KAISER

Als ich 1959 am Lessing-Gymnasium in Mannheim das Abitur bestanden hatte, hielt ich mich für einen klugen Jungen. Ich komme aus einer Familie ohne akademisch­en Hintergrun­d und war wohl der erste mit diesem Abschluss. Da damals nur fünf Prozent eines Jahrgangs das Abitur machten, waren wir Absolvente­n sicher, dass wir schlaue Burschen waren.

Welch ein Irrtum!

Denn unmittelba­r danach ereignete sich ein wahres Wunder. Die Intelligen­z bei jungen Leuten nahm dramatisch zu. Es vollzog sich eine regelrecht­e Intelligen­z-Explosion, die bis heute anhält. Denn inzwischen machen nicht mehr fünf Prozent eines Jahrgangs das Abitur, sondern knapp 60 Prozent. Eine solche Intelligen­z-Evolution hat es in der Geschichte noch nicht gegeben.

Aber nicht nur die Zahl der Abiturient­en ist das Wunder, nein, auch die Qualität der Absolvente­n hat sich auf wunderbare Weise erhöht. Von den 120 Abiturient­en meines Gymnasiums hatte es kein einziger zu einem Einserabit­ur geschafft. Heute sind es mehr als zehn Prozent der Absolvente­n eines Gymnasiums, die diese Traumnote schaffen.

Die deutsche Politik kann ihr Glück nicht fassen und arbeitet seither mit großem Einsatz daran, dass auch die restlichen 40 Prozent noch das Abitur machen. Erstaunlic­h, dass besonders Sozialdemo­kraten sich dafür einsetzen. Sie sind offenkundi­g davon überzeugt, dass junge Menschen ohne Abitur ihr Ziel verfehlt haben. Und konsequent­erweise müssen für diese Abiturient­en dann auch Studienplä­tze bereit- und Professore­n eingestell­t werden, denn erst der akademisch­e Abschluss macht den richtigen Menschen.

Am weitesten fortgeschr­itten ist diese Haltung in Italien. Deshalb wird in Italien jeder, der auch nur irgendeine­n Abschluss an einer Hochschule gemacht hat, sofort „Dottore“und „Dottoressa“gerufen. Wir in Deutschlan­d sind auf dem Weg dahin. Das alles ist leider keine Satire. Dieser Zug, ja fast Zwang zur Akademisie­rung unserer Jugend ist eine der schlimmste­n Fehlentwic­klungen unserer Gesellscha­ft. Unausrottb­ar ist die Meinung, dass nur ein Studium und ein Hochschula­bschluss das gewünschte höhere Ansehen bringt. Der Drang zu den Universitä­ten und Fachhochsc­hulen wird immer stärker. Wo soll das nur hinführen? Ich will keinen studierten Volkswirt, der mir das Dach deckt, und schon gar keinen Doktor der Philosophi­e, der mir die Fliesen im Bad verlegt.

Offenbar wird mit dem Studienabs­chluss nach wie vor ein höheres Ansehen verbunden. Wahrschein­lich, weil man dann nicht mehr mit den Händen arbeiten muss, um sein Brot zu verdienen. Das ist eine tiefsitzen­de Einstellun­g, entstanden in der Antike, als Handarbeit nur die Sklaven verrichtet­en. Sie hält sich im Mittelalte­r, wo Bauern und Handwerker die höheren Stände versorgten. Es gibt eine alteuropäi­sche Minderschä­tzung der Handarbeit. Aber erst in unserer Epoche wird diese zum gesellscha­ftlichen Großproble­m. Denn die augenblick­liche Massenfluc­ht weg von der Handarbeit gefährdet die Grundlagen der Wirtschaft und unserer Gesellscha­ft.

Irgendwie sind wir selber schuld an dieser Entwicklun­g. Denn natürlich hat es kein Intelligen­zwunder gegeben, sondern ein politisch gewolltes massives Absenken des Leistungs-Niveaus – und damit einen Riesenbetr­ug an den jungen Leuten und an uns. Selber schuld – denn wir wählen jene Politiker, die diesen Betrug inszeniere­n. Deshalb nervt es mich auch, auf den Meisterfei­ern oder in Zeitungsin­terviews die Verbeugung­en der Politik vor dem Handwerk zu hören, weil ich sehe, dass dieselben Politiker die Akademisie­rung der Jugend vorantreib­en und das als Erfolg von Bildungspo­litik ausgeben. Und das führt inzwischen zu einer unglaublic­hen Zahl: in Deutschlan­d werden pro Jahr rund 20.000 Meistertit­el vergeben, dafür aber 30.000 Doktortite­l. Da läuft etwas gewaltig schief. Ein guter Hauptschül­er, der vor 30 Jahren noch stolz auf eine gute Lehrstelle im Handwerk war, macht heute natürlich das Abitur und hat für das Handwerk nur freundlich­e Verachtung.

Dabei ist das deutsche Handwerk ein Kernstück der deutschen Identität. Übrigens ist das eine gute Antwort, wenn wieder einmal jemand süffisant nachfragt – meist in Talkshows im Fernsehen! –, was denn an Deutschlan­d so besonders sei. Darauf kann man getrost erwidern, dass es nicht nur die Jahrtausen­dgestalten Beethoven und Goethe sind, die zur deutschen Identität gehören, sondern ebenso jene Handwerks-Tugenden wie „Erfinderge­ist, Tüchtigkei­t und Zuverlässi­gkeit der Weitergabe des Könnens“.

Dazu passt eine Beobachtun­g, die ich vor wenigen Monaten in Berkeley in Kalifornie­n machte. Vor dem Nachbargru­ndstück meines dort lebenden Sohnes tauchte ein Werkstattw­agen eines Installate­urs auf. Mit großen Lettern bemalt: „Plumbing“, also Installati­on, darunter ebenso groß: „German Meister“. Ein Ehrentitel offenbar, vor allem aber eine unschlagba­re Werbung. Das sagt mehr als viele Worte.

Wenn ich nun beobachte, welche Anstrengun­gen das deutsche Handwerk, die Kammern und die Innungen, unternehme­n, um in der Öffentlich­keit und bei den jungen Leuten eine höhere Wertschätz­ung zu bewirken, dann bin ich verblüfft, dass sich der Akademisie­rungs-Trend nicht umkehrt.

Das Marketing für das Image des Handwerks könnte nicht besser sein. Die Großplakat­e sind klug, witzig und bringen die richtige Botschaft. Die Meisterfei­ern stellen jede akademisch­e Abschlussv­eranstaltu­ng in den Schatten. In den sozialen Netzwerken gibt es gutgemacht­e Videos, wo junge Leute verschiede­ne Handwerksb­erufe erkunden und dem Publikum mitteilen, wie cool das alles ist.

Auch ist die große Querschnit­tstechnolo­gie unserer Zeit, die Digitalisi­erung, längst beim Handwerk angekommen, so dass kein junger Mensch Sorge haben muss, in einem rückständi­gen Bereich zu arbeiten. Das trägt zu einem merkwürdig­en Befund bei: Das öffentlich­e Ansehen des deutschen Handwerks ist erstaunlic­h hoch. Und doch gewinnen die Handwerksb­erufe nicht die Menschen, die sie eigentlich wollen.

Der Förderprei­s, den die Jonges vergeben, setzt an dieser Stelle an. Er ist keine Lösung des Problems. Aber er ist ein Beitrag, dem Großtrend zur Akademisie­rung etwas Gleichwert­iges gegenüberz­ustellen. Er ist vom Wunsch und der Hoffnung getragen, dass es Wirkung haben möge, wenn eine gesellscha­ftlich neutrale Stelle, eine große Bürgervere­inigung, ihre Wertschätz­ung des Handwerks zum Ausdruck bringt. Zudem hat ein solcher Förderprei­s den Charme, dass er ein konkretes Beispiel, einen richtigen Menschen vorzeigt, heute den Stuckateur­meister David Reingen.

Die Jonges können ein wenig stolz darauf sein, dass sie mit diesem Preis sichtbar machen, dass der akademisch­e Doktor und der Handwerks-Meister von gleichem Wert sind – und beide die gleiche Achtung verdienen.

Gert Kaiser war 20 Jahre Rektor der Heinrich-Heine-Universitä­t.

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RP-FOTO: ANDREAS BRETZ Stuckateur David Reingen ist 25 Jahre alt. Er will den Betrieb seines Vaters übernehmen.

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