Abstrampeln mit Juli Zeh
In „Neujahr“erzählt Juli Zeh von einem jungen Vater, den das moderne Familienleben in die Krise treibt.
DÜSSELDORF Sie kann Figuren aus der Gegenwart greifen, in deren Seelenleben sich alles abspielt, was die Juli-Zeh-Generation der Mittvierziger beschäftigt. Figuren wie Henning: Seit er Vater ist, hat er seine Stelle in einem Verlag reduziert, teilt sich Hausarbeit und die Erziehung der beiden Kinder tatsächlich mit seiner Frau. Eigentlich ist er also ein Musterbeispiel des modernen Mannes, selbstverwirklicht und selbstbewusster Familienmensch, wenn da nicht die Angstattacken wären, die ihn immer häufiger überfallen. Henning ist überfordert mit all den Ansprüchen, denen er als Vater, Partner, Kreativarbeiter genügen muss. Darum hat er eine Flucht organisiert. Zu Weihnachten. Mit seiner Familie ist er nach Lanzarote geflogen, hat sich der erwartungsschweren deutschen Feiertagsgemütlichkeit entzogen und sie gegen Sonne, Meer und Aschestrand eingetauscht. Doch die Angst ist ihm auf die Kanaren gefolgt; und so flieht er weiter, springt am Neujahrsmorgen schlecht ausgestattet auf ein Rad und beginnt eine anspruchsvolle Bergtour. Als müsste er sich im Leben nicht schon genug abstrampeln.
Juli Zeh gelingt es in „Neujahr“auf wenigen Seiten, aus der Sicht eines überforderten Mannes all die Bedrängnisse zu schildern, in die junge Familien heute geraten – von offener Rollenverteilung über Erziehungsfragen bis hin zur politischen Positionierung in der Gesellschaft. Zeh beschreibt das mit satirischer Treffsicherheit, jedoch ohne ihre Figuren je bloßzustellen. Ihr Henning will alles richtig machen und scheitert gerade darum.
Doch „Neujahr“ist mehr als das Porträt einer verunsicherten Wohlstandsgeneration. Kaum hat Henning den Gipfel erreicht, lässt Zeh ihre Leser in dessen Vergangenheit fallen, genauer: in die traumatischen Erlebnisse zweier Kleinkinder. Sie schildert das plastisch, ganz aus der Sicht der Kinder, beklemmend wie ein böses Märchen. Hänsel und Gretl allein im Ferienhaus.
Allerdings macht diese drastische Kindergeschichte aus Henning einen ungewöhnlichen Einzelfall. Aufs Rad gestiegen war er noch als lebendiger Vertreter seiner Generation, doch der Berg fördert so viel aus seinem Vorleben zu Tage, dass sein Hang zur Selbstausbeutung und chronischen Selbstüberforderung eben nicht mehr Resultat moderner Rollenzumutungen ist, sondern Ergebnis einer besonderenTraumatisierung. Gerade die drastische Wendung nimmt der Geschichte also letztlich die Wucht. Henning ist nicht Opfer der Verhältnisse, sondern eines Schicksals, das zum Glück nicht viele trifft.
So kann die Geschichte auch ziemlich eilig ein therapeutisch vorbildliches Ende nehmen. Doch was zählt schon der Abstieg, wenn die Etappen am Berg so intensiv und genau vom Leben in der Gegenwart erzählen, von Angst und Erschöpfung mitten im Wohlstand, von Selbstzweifeln und Ohnmachtsgefühlen in einer Welt mit zu vielen Optionen. Juli Zeh hat einen analytischen Blick auf ihre Zeit, das zeigt sie als politisch engagierter Mensch, der sich in aktuelle Debatten einmischt. Der Kunst schadet das nicht. Wie schon „Unter Leuten“ist auch „Neujahr“hellsichtige Literatur aus dem Jetzt und Hier, die Menschen hilft, sich besser zu verstehen.
Info Juli Zeh: „Neujahr“. Luchterhand, 192 Seiten, 20 Euro