Rheinische Post Hilden

Pfaffs Hof

- Von Hiltrud Leenders

Genauso würde es mit unserem Bett sein: Ich musste nur allein mit ihm einschlafe­n, wenn er Frühschich­t hatte, alle paar Wochen für ein paar Tage.

Und da konnte ich einfach so tun, als wäre ich gar nicht da, konnte in Bullerbü oder Kleinköpin­g sein, wo Sommer war und man sich lieb hatte.

Ich musste wieder unter der Decke hervorkomm­en, weil mir so heiß war.

Mein Kopfkissen war jetzt das einzige auf dieser Bettseite, ich wusste nicht, wo ich es hinschiebe­n sollte. War das jetzt mein eigenes Bett? „Mutti?“

„Schlaf endlich.“

Sie hatte Dirk lieb und Peter.

Und dann wurde Kennedy erschossen.

Von nichts anderem sprachen die Leute mehr, sogar die Kinder in der Schule.

Ich merkte, dass auf einmal alle irgendwie Angst hatten, aber ich verstand überhaupt nicht, warum.

Bis Vater sagte: „Was wird der Iwan jetzt tun?“

Das verstand ich: Wenn der Iwan etwas tat, gab es Krieg. Was das bedeutete, hatte ich oft genug gehört.

Krieg hieß Bomben und in Bunkern und Kellern kauern und hoffen, dass es einen nicht traf. Dass man irgendwie überlebte. Bedeutete Flucht und „Treck“, auf dem „einem die Kinder unter den Händen wegstarben“. Hieß „Gustlow“, auf die man nicht mehr kommen konnte, weil sie überfüllt war, und deshalb war man nicht umgekommen wie die anderen alle.

Da hatte ich auf einmal auch Angst.

Nach der Schule lief ich sofort zu Barbara.

Ich sah sie auf ihrer alten Schaukel sitzen und stieg über das Gartenmäue­rchen.

„Kennedy ist tot.“

„Ich weiß“, flüsterte sie.

Und dann fing sie so sehr an zu weinen, dass ich es mit der Angst bekam.

Ich fasste nach ihren Händen, aber da kam auf einmal Onkel Maaßen aus der Werkstub gehumpelt. Zog Barbara von der Schaukel herunter und nahm sie in seine Arme.

Er musste mich gar nicht angucken, ich ging schon.

Aber ich ging nicht auf den Hof zurück. Ich zwängte mich durch die erste kleine Lücke in der Hecke zum Apfelbonge­rt, hockte mich ins Gras unter einen Baum und weinte auch.

Nicht wegen Kennedy.

Ich weinte so lange, bis es anfing zu graupeln und ich meine Hände und Füße nicht mehr fühlte.

„Was hast du gemacht? Wo hast du denn nur gesteckt?“, schimpfte Mutter, als ich ihr meine blauen Finger entgegenst­reckte.

Dabei lief sie schon los und holte die neue hellblaue Plastiksch­üssel, füllte heißes Wasser aus dem Kessel hinein, der immer auf dem Herd stand, rannte in die Spülküche, ließ kaltes Wasser dazulaufen und stellte die Schüssel auf den Küchentisc­h.

Dann zog sie mir den schwarzen Poncho über den Kopf, den Onkel Maaßen genäht hatte – für mich mit rotem, für Barbara mit grünem Futter –, krempelte meine Pulloverär­mel hoch und drückte meine Hände ins Wasser.

„Lass sie bloß drin! Das Wasser ist nur lauwarm. Auch wenn es dir kochend heiß vorkommt.“

Ich biss die Zähne ganz fest aufeinande­r.

Mutter füllte auch den Putzeimer mit lauwarmem Wasser, zog mir die Schuhe und die Strumpfhos­e aus.

„Steig da rein.“Das tat ich und musste wimmern. „Ich dachte, du wolltest zu Barbara.“

„Ja.“Meine Lippen waren so taub, dass ich fast nicht sprechen konnte. „Sie saß auf der Schaukel.“

Mutter machte große Augen. „Im November?“

Dann rubbelte sie mein Gesicht. „Wird es besser? Kriegst du schon wieder Gefühl?“

Ich konnte nur weinen.

„Ja, ich weiß.“Mutter ging in die Hocke und nahm mich in die Arme. „Das ist immer der schlimmste Moment, wenn das Gefühl zurückkomm­t, aber der geht schnell vorbei.“

Sie sah mir wohl an, dass ich ihr nicht glaubte, und lächelte, als sie aufstand. „Glaubst du etwa, mir wäre das noch nie passiert? Beweg jetzt langsam die Finger und die Zehen.“

Dann ging sie auf die Tenne und holte ein paar Briketts.

„Bei uns im Bergischen hatten wir jeden Winter Schnee bis zum Gehtnichtm­ehr. Und nach der Schule ging es jeden Tag zum Schlittenf­ahren, bis es dunkel wurde und wir halb erfroren waren.“

Sie öffnete die Tür vom Wohnzimmer­ofen und stocherte mit dem Rocheleise­n in der Glut.

„Und meine Mutter musste sehen, wie sie uns fünf Blagen wieder aufgetaut kriegte. Die Kleinen steckte sie dann immer gleich ganz in die Badewanne.“Sie schob zwei Briketts in den Ofen. „In unsere Zinkwanne. Andere Badewannen gab es ja damals noch nicht, jedenfalls nicht für die normalen Leute.“

Aus Zink war unser Putzeimer, in dem ich stand, er war kalt und – stumpf. In so einer Wanne sitzen – mir lief Gänsehaut den Kiefer hinunter bis zum Hals.

Mutter schob einen unserer Korbsessel dicht vor den Ofen und setzte mich hinein, nachdem sie meine Hände und Füße trocken gerubbelt hatte. Dann holte sie mein Oberbett, das Barbara Plümmo nannte, und stopfte es fest um mich herum.

„Ich hol dir gleich ein Buch, wenn du mir sagst, welches du willst.“

Aber erst einmal schnappte sie sich den Telefonapp­arat und nahm ihn mit in Dirks Zimmer. Ich konnte trotzdem hören, dass sie Tante Maaßen anrief – wegen der Schnur ging die Tür nicht richtig zu –, und zog mir das Federbett über die Ohren.

Auch in unserem Haus im Dorf hatten wir nur im Wohnzimmer und in der Küche einen Ofen zum Heizen gehabt – kein Mensch hatte Öfen in den Schlafräum­en – und im Badezimmer den großen Boiler, aber es war so viel wärmer gewesen als hier auf Pfaffs Hof.

Ich stellte mir immer vor, dass die Mauern die Kälte der letzten 250 Jahre aufgenomme­n hatten und beständig zurück in die Räume sickern ließen.In der Küche und im Wohnzimmer konnte man dagegen anheizen, aber im Schlafzimm­er und in Dirks und Mutters Zimmer hatten wir schon jetzt im November jeden Morgen dicke Eisblumen an den Fenstersch­eiben. Und wenn ich aus dem Bett krabbelte, um mich für die Schule fertig zu machen, konnte ich meinen Atem sehen.

(Fortsetzun­g folgt)

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