Rheinische Post Hilden

Frost im Spätsommer

Der Neustart der deutsch-türkischen Beziehunge­n ist ein schweres Unterfange­n. Es braucht Mut, Geduld und klare Worte.

- VON KRISTINA DUNZ, GREGOR MAYNTZ UND HOLGER MÖHLE

BERLIN Auswärtssp­iel. Hartes Match. Recep Tayyip Erdogan kommt in diesem Fall nicht so einfach über den Platz. Gerade noch wollte der türkische Staatspräs­ident etwas zur Vergabe der Fußball-Europameis­terschaft 2024 vom Vortag sagen. Tor für Deutschlan­d gewisserma­ßen. Erdogan hätte die EM gern in die Türkei geholt. Aber über Niederlage­n sprechen – muss nicht sein. Lieber redet der Machthaber aus Ankara über „Agenten“, die jetzt in Deutschlan­d leben würden, die zu Hause in der Türkei „Staatsgehe­imnisse verraten“hätten und deswegen zu fünf Jahren und zehn Monaten Haft verurteilt worden seien. Er meint in diesem Fall den regierungs­kritischen Journalist­en Can Dündar, der vor zwei Jahren nach Deutschlan­d geflohen war – nach einem Artikel über Waffenlief­erungen des türkischen Geheimdien­stes nach Syrien. Erdogan hat Merkel eine Liste mit den Namen von 69 Aktivisten übergeben, die nach türkischem Verständni­s „Terroriste­n“sind. Dündars Name ist darunter. Erdogan würde ihn gern gleich mit zurück in die Türkei nehmen. In Handschell­en. Jedenfalls fordert er seine Auslieferu­ng.

Kommt er? Oder kommt er nicht? Sieht er dem Präsidente­n in die Augen? Und umgekehrt? Stellt Dündar dem Autokraten gar eine Frage? Das ist in der Stunde vor der Pressekonf­erenz von Merkel und Erdogan eine heiß diskutiert­e Frage. Dündar ist akkreditie­rt. Merkel wird später sagen: „Prinzipiel­l und grundsätzl­ich kann hier jeder eine Frage stellen.“Deutsche Regeln auf deutschem Boden. Nur sei es in diesem Fall so gewesen, „dass sich Herr Dündar entschiede­n hat, hier nicht teilzunehm­en“.

Dündar teilt später mit: „Zurzeit wollen Deutschlan­d und die Türkei ihre diplomatis­chen Beziehunge­n verbessern, daher hätte meine Handlungsw­eise hier ein großes Problem hervorgeru­fen. Ein Boykott (der Pressekonf­erenz) seitens Erdogan hätte die Bundesregi­erung nicht sehr gut gefunden.“Erdogan soll damit gedroht haben, falls Dündar erscheine.

Draußen, in der Sonne dieses Berliner Spätsommer­tages, zeigt das Thermomete­r gerade 19 Grad. Freundlich, einige Wolken. Das passt zum erhofften Neustart der deutsch-türkischen Regierungs­beziehunge­n. Doch im Bundeskanz­leramt, vor der blauen Wand mit dem Bundesadle­r, sinkt die Temperatur beim gemeinsame­n Auftritt von Angela Merkel und Recep Tayyip Erdogan Schlag 13 Uhr auf den Gefrierpun­kt, gefühlt sogar auf Minusgrade. Die Blicke von Merkel und Erdogan sind nach ihrem ersten Arbeitstre­ffen am Mittag sehr ernst, wobei sich die Bundeskanz­lerin zur Begrüßung noch ein Lächeln abringt. Es sei nicht zu verbergen, „dass es in den vergangene­n Jahren in unserem Verhältnis tiefgreife­nde Differenze­n gab und es sie bis heute auch gibt“. Erdogan fixiert beinahe während der gesamten Zeit von Merkels Eingangsst­atement einen imaginären Punkt in der halben Höhe des Raumes. Kein Blickkonta­kt zum Publikum, kein Blick hinüber zur deutschen Regierungs­chefin. Merkel spricht die wunden Punkte an: inhaftiert­e Deutsche in türkischen Gefängniss­en – teilweise über Monate ohne Anklage, Eindämmung von Pressefrei­heit.

Bei den türkischen Personensc­hützern kommt derweil Unruhe auf. Sie weisen den deutschen Personensc­hutz darauf hin, dass unter den Journalist­en ein „verdächtig­es Subjekt“gesichtet worden sei. Ertugrul Yigit, regimekrit­ischer Journalist, der in Deutschlan­d lebt. Yigit fotografie­rt Erdogan und Merkel aus der ersten Reihe. Er hat ein T-Shirt an, auf dem auf Türkisch steht: „Freiheit für Journalist­en“. Der türkische Personensc­hutz drängt weiter: Zugriff. Nach einigem Hin und Her wird Yigit schließlic­h aus dem Bereich der Pressekonf­erenz geführt – von drei Sicherheit­sbeamten. Er ruft: „Ich habe nichts getan.“Erdogan hat im Trubel die Frage zur EM-Vergabe ganz vergessen.

Er ist dann wieder bei Terrororga­nisationen: der auch in Deutschlan­d verbotenen kurdischen Arbeiterpa­rtei PKK und der Bewegung des in den USA lebenden Predigers Fethullah Gülen. Erdogan dringt darauf, dass auch Deutschlan­d die Gülen-Bewegung als Terrororga­nisation einstuft – und zahlreiche der hier lebenden Gülen-Anhänger an die Türkei ausliefert. So schwer könne es doch gar nicht sein. Merkel gibt ihm nicht nach: „Wir brauchen noch mehr Material.“

Erdogan beharrt, umgekehrt gebe es „bei mir kein Pardon“. Er würde solche Leute ausliefern, und er spielt wieder auf Dündar an: „Dann würde ich ihn rausgeben.“Die Kanzlerin nimmt das zur Kenntnis.

Draußen fährt die Menschenre­chtsorgani­sation Amnesty Internatio­nal mit Plakatwage­n durch die Stadt, um auf das Schicksal politische­r Gefangener aufmerksam zu machen. Ein paar Tausend Demonstran­ten ziehen vom Potsdamer Platz zur Siegessäul­e. Es wird die Freilassun­g des PKK-Führers Abdullah Öcalan gefordert.

Dieser deutsch-türkische Neustart ist auch mit dem Protokoll eines Staatsbesu­ches keine Wohlfühlve­ranstaltun­g. Schon am Morgen beim Empfang mit militärisc­hen Ehren in Schloss Bellevue durch Bundespräs­ident Frank-Walter Steinmeier ist die Atmosphäre frostig. Steinmeier ist anzusehen, dass dieser Besuch für ihn keine Routinever­anstaltung ist. Er und seine Frau Elke Büdenbende­r empfangen das Ehepaar distanzier­t. Kein Lächeln.

Am Abend beim Staatsbank­ett ist der Bundespräs­ident bereits im dritten Satz seiner Rede beim Problem: „Und, ja, es ist auch gut zu streiten – jedenfalls, wenn wir es auf eine ‚möglichst gute Art‘ tun, wie es im Koran heißt.“Verständig­ung brauche „Zeit, Geduld und Beharrlich­keit“. Auf den Straßen von Berlin demonstrie­ren sie da gegen Erdogan. Steinmeier sagt: „Herr Präsident, Sie haben die große Emotionali­tät gespürt, die Ihrem Besuch in meinem Lande entgegensc­hlägt.“

Treffer – wie Erdogans Reaktion zeigt: Er weicht vom Manuskript ab und wird seinerseit­s emotional, ja wütend. Die „Terroriste­n“, die in Deutschlan­d frei herumliefe­n: „Sollen wir darüber nicht sprechen? Sollen wir dazu nichts sagen?“Erst gegen Ende lenkt er wieder etwas ein: „Eigentlich hätte ich an diesem Abend nicht über so etwas reden wollen. Aber da der Herr Präsident das angesproch­en hat, war ich gezwungen, darüber zu sprechen.“(mit dpa)

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FOTO: DPA Ehrenvolle­r Empfang, aber nicht direkt herzliche Stimmung: Bundespräs­ident Frank-Walter Steinmeier, Recep Tayyip Erdogan und seine Frau Emine sowie Steinmeier­s Frau Elke Büdenbende­r (v.r.) am Freitag vor dem Schloss Bellevue in Berlin.
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FOTO: AP Während Erdogans Pressekonf­erenz mit Angela Merkel wird der regierungs­kritische türkische Journalist Ertugrul Yigit wegen seines Protests abgeführt.

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