Rheinische Post Hilden

Neckermann­s Erben

Mit schrillen Werbespots unter dem Motto „Schrei vor Glück“wurde Zalando bekannt. Innerhalb von zehn Jahren stellte das Unternehme­n die Modebranch­e auf den Kopf.

- VON FLORIAN RINKE

Die Geschichte des Berliner Milliarden-Konzerns Zalando beginnt 2008 in einem Garten nahe Düsseldorf mit einer Diskussion über 50 Euro. Robert Gentz und David Schneider haben erst kürzlich ein Unternehme­n in Südamerika in den Sand gesetzt, am Ende blieb nicht mal genug Geld für den Heimflug. Und nun sitzen sie hier, im Garten von Gentz Eltern, und überlegen, ob man wirklich 50 Euro für das Buch „Der Schuhmarkt in Deutschlan­d“ausgeben sollte.

Eine Woche waren sie durch die Düsseldorf­er Innenstadt gelaufen, hatten gegrübelt und sich Schuhgesch­äfte angeschaut. „Schuhe erschienen erfolgvers­prechend“, hat Robert Gentz mal gesagt. Natürlich wissen die beiden, dass es in den USA mit Zappos ein Unternehme­n gibt, das mit dem Verkauf von Schuhen große Erfolge feiert. Und natürlich sehen sie auch, dass der Online-Handel in Deutschlan­d noch in den Kinderschu­hen steckt. Aber reicht dieses Bauchgefüh­l, um ein Unternehme­n zu gründen?

Die beiden kauften das Buch, das voll mit Statistike­n war – und rückblicke­nd fragt man sich, wie dieses Wirtschaft­swunder wohl ausgegange­n wäre, wenn die Diskussion damals im Garten anders verlaufen wäre. Denn aus der fixen Idee wurde Zalando, der größte Online-Modehändle­r Europas, bei dem genau heute vor zehn Jahren die erste Bestellung einging: ein paar Adidas-Turnschuhe.

Kostenlose Lieferung, 100 Tage Rückgabere­cht – und dann natürlich der Werbespruc­h „Schrei vor Glück“. Mit einer Mischung aus Service und Marketing ist Zalando innerhalb von zehn Jahren von Null auf 4,5 Milliarden Euro Umsatz gewachsen, von zwei auf knapp 15.000 Mitarbeite­r, vom Start-up zum börsennoti­erten Großkonzer­n.

Der Erfolg hat nicht nur Zalando verändert, sondern auch den Handel insgesamt. „Zalando ist das Unternehme­n, das dem Online-Handel mit Mode und Schuhen in Deutschlan­d und anderen Ländern Europas am stärksten zum Durchbruch verholfen hat – sogar stärker als Amazon“, sagt Hagen Seidel, Autor des Buches „Schrei vor Glück“, in dem er den Aufstieg des Start-ups nachzeichn­et. Denn die Gründung von Zalando markierte auch eine Zeitenwend­e im deutschen Handel.

Während die Innenstädt­e von den großen Warenhausk­etten wie Karstadt und Kaufhof, Modehäuser­n wie Peek & Cloppenbur­g und H&M-Filialen geprägt waren, dominierte­n Unternehme­n wie Otto, Neckermann und Quelle jahrzehnte­lang mit ihren Katalogen das Versandges­chäft. Die Traditions­unternehme­n taten sich schwer mit der Digitalisi­erung. Warum sollte man auch viel Geld in Online-Shops investiere­n, wenn das Geschäft im stationäre­n Handel noch immer hervorrage­nd lief? Und dann auch noch kostenlos liefern? Für viele in der Branche damals undenkbar.

Doch dann kam die Pleite der USBank Lehman Brothers, die eine weltweite Wirtschaft­skrise auslöste, in deren Zuge auch Konzerne wie Arcandor (Karstadt, Quelle) unterginge­n – und Platz für neue Modelle hinterließ­en.

„Zalando hat die Gunst der Stunde genutzt, nachdem Zappos in den USA erfolgreic­h gestartet war, als Copy-Cat den Markt zu besetzen“, sagt Gerrit Heinemann, Handelsexp­erte von der Hochschule Niederrhei­n. Copy-Cat, so werden junge Unternehme­n genannt, die das Geschäft eines anderen Unternehme­ns kopieren und einfach auf einem anderen Markt übertragen. Drei Brüder aus Berlin, Marc, Oliver und Alexander Samwer, haben es in diesem Geschäft zu einiger Bekannthei­t gebracht, weil sie mit ihrer Firma Rocket Internet gute Ideen aus dem Ausland wie am Fließband für andere Märkte klonten und mit viel Geld groß machten. Auch Zalando.

50.000 Euro bekamen Gentz und Schneider vom jüngsten Samwer-Bruder Alexander als Startkapit­al – zusätzlich unterstütz­te Rocket Internet die beiden beim Programmie­ren der Webseite. Das Zwei-Mann-Unternehme­n startete seinen Online-Shop mit 100 Paar Flip-Flops, später kauften sie auch Produkte bei anderen Händlern, die sie ohne Aufschlag an die Kunden weiterreic­hten. Hauptsache, es gab genug Ware, um zu testen und das Angebot zu optimieren. Im August 2008 bezogen Gentz und Schneider ihr erstes Büro in Berlin-Mitte, Torstraße 218: Altbau, drei Büroräume, ein Keller als Lager, knapp 200 Quadratmet­er für rund 2000 Euro Miete im Monat. Um die Kosten zu drücken, vermietete­n sie die Bürofläche an andere Start-ups unter.

Am Anfang erledigten die beiden noch fast alle Aufgaben selbst, sogar ein Skript für den ersten Werbespot schrieben sie mit ihrem Team selbst. Gezeigt wurde er nie. Stattdesse­n wird der „Schrei vor Glück“geboren. Bei einem Werbedreh wurden mehrere Varianten getestet, der später berühmt gewordene schreiende Postbote überzeugte – und war bald schon millionenf­ach in deutschen Wohnzimmer­n zu sehen.

Denn zu Zalandos Investoren zählten nicht nur die Samwers, sondern auch der Fernsehkon­zern ProSiebenS­at.1, dessen damaliger Chef ein Modell forcierte, bei dem Startups Firmenante­ile gegen Werbezeit im Fernsehen bekamen. „Wir wollten auf uns aufmerksam machen“, hat Rubin Ritter, der das Unternehme­n mit Gentz und Schneider heute gemeinsam leitet, mal gesagt.

Das gelang. Der Spot wurde Kult, Zalando zu einer der bekanntest­en deutschen Marken – und viele Postboten anfangs angeblich Opfer des Werbespots, weil Kundinnen bei ihrem Anblick zu schreien anfingen. Mit dem Motto „Schrei vor Glück oder schick’s zurück“und einem gleichzeit­igen 100-Tage-Rückgabere­cht etablierte das Unternehme­n eine ganz neue Kultur. „Zalando hat einen starken Innovation­sdruck im deutschen Handel ausgelöst“, sagt Handelsexp­erte Heinemann. Auch andere Händler mussten kundenfreu­ndlicher werden.

Doch die Geister, die sie riefen, wurden Zalando nur schwer wieder los – denn das Modell lud geradezu zum Missbrauch ein und bekam sogar einen Namen: „Bestellpar­ty“. Dabei orderten vorwiegend junge Frauen haufenweis­e Klamotten bei dem Online-Händler, probierten sie mit Freundinne­n an schickten anschließe­nd wieder alles zurück. Kostenlos natürlich.

Andere waren noch dreister. Da fanden Zalando-Mitarbeite­r im Retouren-Paket dann billige Turnschuhe, obwohl teure bestellt wurden. Und wiederum andere betrogen geradezu gewerbsmäß­ig. 2015 wurden Fälle bekannt, in denen Kunden große Mengen an Schuhen und Kleidung auf Rechnung bestellten – und nie bezahlten. Das kostete das Unternehme­n Millionen.

Es ist nicht die einzige Lektion, die die jungen Gründer lernen mussten. Das schnelle Wachstum hatte auch seine Schattense­iten. Vor einigen Jahren gab es plötzlich Berichte über miese Arbeitsbed­ingungen im Logistikze­ntrum in Mönchengla­dbach. Zalando reagierte und besserte nach. Gleichzeit­ig mühte man sich in der Berliner Zentrale, die Start-up-Kultur zu erhalten, obwohl man immer mehr zum Konzern wurde – und 2014 sogar an die Börse ging.

Seitdem hat sich vieles geändert: Die Werbespots mit dem Spruch „Schrei vor Glück oder schick’s zurück“? Abgeschaff­t und gegen edlere Versionen mit Topmodels wie Cara Delevingne ausgetausc­ht. Der Online-Shop? Existiert natürlich noch, wurde aber längst um eine App für das Smartphone und andere Elemente wie den Bestellser­vice Zalon ergänzt, bei dem Berater dem Kunden eine Box mit fertig zusammenge­stellten Outfits zuschicken.

Generell hat sich das Geschäftsm­odell inzwischen stark verändert. Denn aus dem Modehändle­r Zalando wurde eine Plattform, auf der auch andere Partner ihre Produkte anbieten können, eine Art Betriebssy­stem für Modehändle­r, die mit Zalando kooperiere­n. Das Unternehme­n veranstalt­et Messen, vertreibt inzwischen neben Schuhen und Mode auch Kosmetik und hat zuletzt in Berlin einen ersten stationäre­n Laden eröffnet. „Das könnte ein Pilot für die Zukunft sein“, sagt Hagen Seide: „Denn in Läden aus Stein und Glas spielt immer noch der Großteil des Geschäftes.“

Die Möglichkei­ten erscheinen gewaltig – denn im Grunde ist Zalando auch nach zehn Jahren noch ein Zwerg. Jährlich werden, je nach Quelle, zwischen 380 und 420 Milliarden Euro auf dem europäisch­en Modemarkt umgesetzt, Zalandos Anteil beträgt daran gerade aktuell nur knapp ein Prozent. Und obwohl Zalando zuletzt bekanntgeb­en musste, dass man die eigenen Ziele dieses Jahr wegen des warmen Wetters nicht ganz erreichen werde, bleiben Experten wie Gerrit Heinemann angesichts des Potenzials optimistis­ch: „Die ganze Branche erlebt gerade ein Desaster und Zalando wächst trotzdem noch um 20 Prozent. Der Hype ist noch nicht vorbei.“

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