Rheinische Post Hilden

Es ist feuchtwarm, nachts hat es geschüttet. Sommergewi­tter sind typisch für das Klima

- VON MATTHIAS KUTZSCHER

Die Sonne ist abrupt weg. Wir rollen mit dem Auto in einen putzigen Tunnel. Vom Fenster aus lassen sich die groben, tropfnasse­n Steinwände streicheln. Keine Lampe leuchtet. In 100 Metern zeichnet das Sommerlich­t ein Tor in den Fels. Nur zwei schmale Straßen führen überhaupt in den Nationalpa­rk Val Grande. Eine davon windet sich hoch ins Dorf Cicogna, in dem 15 Menschen leben und ein Besucherze­ntrum steht. Durch den Berg müssen alle. Verwalter, Wächter, Einwohner, Wanderer.

Tim Shaw hat uns geraten: „Da müsst ihr hin. Die Tagestour zur Alpe Prá und am Rio Pogallo entlang ist gut zu gehen und spektakulä­r“, erklärte der einzige hauptberuf­liche Führer des Val Grande. Shaws Opa war Amerikaner, er ist am Bodensee aufgewachs­en und als Kind oft mit dem Vater durch das am wenigsten erschlosse­ne Gebiet der Alpen gestreift. Mittlerwei­le kennt der 40-Jährige den erst 1992 gegründete­n Nationalpa­rk zwischen Schweizer Grenze im Norden, Lago Maggiore im Osten und Valle D´Ossola im Westen wie seinen Vorgarten.

Seit 2008 führt Shaw durch die tiefen Schluchten des Parks, auf schroffe Gipfel und zu kleinen Bergwiesen, auf denen Kastanien, Farne, Buchen die verlassene­n Steinkaten und Weiden der Alpler zurück erobern. „Das Val Grande ist ein tolles Wandergebi­et, durchaus auch geeignet für Familien. Weil es aber schwer

zugänglich ist, ist es noch ein Geheimtipp“, sagt Shaw, den wir abends bei Calzone, Steinpilz-Risotto und heimischem Prünent-Wein in Domodossol­a treffen.

Von dem schmucken Bergstädtc­hen mit römischem Ursprung aus schlängelt sich eine Treckingro­ute von der Westseite des Parks zum bewirtscha­fteten Rifugio Parpinasca und weiter zum Monte Togano, dem mit 2301 Metern höchsten Berg der Region. „Wenn Ende Juni auf diesem Abschnitt überall Alpenrosen blühen, ist das einmalig schön“, schwärmt Shaw.

Wer weit oben Gämsen und Steinadler beobachten und die Viertausen­der des Schweizer Wallis in der Ferne anhimmeln möchte, muss allerdings zwei bis drei Tage Zeit einplanen; und Essen, Isomatte, Schlafsack dabei haben. Die Biwaks des Nationalpa­rks, romantisch in alten Alphäusche­n eingericht­et, eignen sich nur für Selbstvers­orger. Gaudi-Hütten mit Kaiserschm­arrn auf der Karte gibt es nicht. Das Tal scheint gottverlas­sen. Wie eine Mauer schirmen ringsum Berge ab – heute ein Segen, früher ein Fluch.

Über Jahrhunder­te plagten sich Bauern mit Ackerbau, Viehwirtsc­haft, Holzschlag. Im Zweiten Weltkrieg verschanzt­en sich Partisanen in dem unwegsamen Gelände. „1944 wurden sie von Nazis und Faschisten nieder gemetzelt“, erzählt Rolf Platen, der seit 30 Jahren durch das Val zieht und ein Buch darüber geschriebe­n hat. Viele Bauern seien mit getötet und ihre Häuser verbrannt worden, berichtet der 76-Jährige. Die Ruinen entdeckt man häufig. Als auch der Forstbesta­nd erschöpft war, wurde die letzte Alp aufgegeben: 1969 war das. Seitdem regiert die Natur. Heute ist das Val Grande das größte Wildnis-Schutzgebi­et der Alpen.

Wir sitzen mit Platen in Cannero, einem beschaulic­hen Örtchen am Lago Maggiore mit dem schönsten Strand weit und breit und blicken auf die gleich hinter dem Ufer steil aufragende­n Hügel. Von der Ostseite ist das Tal, das seit 2013 Unesco-Geopark ist und für nachhaltig­en Tourismus ausgezeich­net wurde, kaum zu erreichen. „Ich kenne kein Gebiet in den Alpen, das vergleichb­ar ist“, sinniert der ehemalige Lehrer und streicht sich über den Bart. „Wildbäche, verwunsche­ne Wege, üppige Flora, viele Tiere, prähistori­sche Felszeiche­n, kein Trubel.“Die Liste ist lang.

Natürlich hat auch Platen einen Tipp. Er empfiehlt einen Nachmittag­sspazierga­ng auf den Monte Faiè. Wieder sind es 30 Minuten Fahrt vom See aus, dann steigen wir an der Alpe Ompio auf 980 Metern aus. Über den Naturlehrp­fad „L’uomo albero“(Baummensch) kraxeln wir durch Birkenhain­e und dichte Buchenwäld­er knapp 400 Höhenmeter hoch. Es ist feuchtwarm, nachts hat es geschüttet. Sommergewi­tter sind typisch für das Klima des Parks. Ganz oben ziehen sich die knorrigen Bäume zurück. Die Augen schweifen weit über Lago Maggiore und Luganer See. Direkt vor uns fällt der Blick 1300 Meter tief ins Tal. Hinter uns ragen die Berghünen des Parks auf.

Wir sitzen, schauen, genießen lange.

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