Es ist feuchtwarm, nachts hat es geschüttet. Sommergewitter sind typisch für das Klima
Die Sonne ist abrupt weg. Wir rollen mit dem Auto in einen putzigen Tunnel. Vom Fenster aus lassen sich die groben, tropfnassen Steinwände streicheln. Keine Lampe leuchtet. In 100 Metern zeichnet das Sommerlicht ein Tor in den Fels. Nur zwei schmale Straßen führen überhaupt in den Nationalpark Val Grande. Eine davon windet sich hoch ins Dorf Cicogna, in dem 15 Menschen leben und ein Besucherzentrum steht. Durch den Berg müssen alle. Verwalter, Wächter, Einwohner, Wanderer.
Tim Shaw hat uns geraten: „Da müsst ihr hin. Die Tagestour zur Alpe Prá und am Rio Pogallo entlang ist gut zu gehen und spektakulär“, erklärte der einzige hauptberufliche Führer des Val Grande. Shaws Opa war Amerikaner, er ist am Bodensee aufgewachsen und als Kind oft mit dem Vater durch das am wenigsten erschlossene Gebiet der Alpen gestreift. Mittlerweile kennt der 40-Jährige den erst 1992 gegründeten Nationalpark zwischen Schweizer Grenze im Norden, Lago Maggiore im Osten und Valle D´Ossola im Westen wie seinen Vorgarten.
Seit 2008 führt Shaw durch die tiefen Schluchten des Parks, auf schroffe Gipfel und zu kleinen Bergwiesen, auf denen Kastanien, Farne, Buchen die verlassenen Steinkaten und Weiden der Alpler zurück erobern. „Das Val Grande ist ein tolles Wandergebiet, durchaus auch geeignet für Familien. Weil es aber schwer
zugänglich ist, ist es noch ein Geheimtipp“, sagt Shaw, den wir abends bei Calzone, Steinpilz-Risotto und heimischem Prünent-Wein in Domodossola treffen.
Von dem schmucken Bergstädtchen mit römischem Ursprung aus schlängelt sich eine Treckingroute von der Westseite des Parks zum bewirtschafteten Rifugio Parpinasca und weiter zum Monte Togano, dem mit 2301 Metern höchsten Berg der Region. „Wenn Ende Juni auf diesem Abschnitt überall Alpenrosen blühen, ist das einmalig schön“, schwärmt Shaw.
Wer weit oben Gämsen und Steinadler beobachten und die Viertausender des Schweizer Wallis in der Ferne anhimmeln möchte, muss allerdings zwei bis drei Tage Zeit einplanen; und Essen, Isomatte, Schlafsack dabei haben. Die Biwaks des Nationalparks, romantisch in alten Alphäuschen eingerichtet, eignen sich nur für Selbstversorger. Gaudi-Hütten mit Kaiserschmarrn auf der Karte gibt es nicht. Das Tal scheint gottverlassen. Wie eine Mauer schirmen ringsum Berge ab – heute ein Segen, früher ein Fluch.
Über Jahrhunderte plagten sich Bauern mit Ackerbau, Viehwirtschaft, Holzschlag. Im Zweiten Weltkrieg verschanzten sich Partisanen in dem unwegsamen Gelände. „1944 wurden sie von Nazis und Faschisten nieder gemetzelt“, erzählt Rolf Platen, der seit 30 Jahren durch das Val zieht und ein Buch darüber geschrieben hat. Viele Bauern seien mit getötet und ihre Häuser verbrannt worden, berichtet der 76-Jährige. Die Ruinen entdeckt man häufig. Als auch der Forstbestand erschöpft war, wurde die letzte Alp aufgegeben: 1969 war das. Seitdem regiert die Natur. Heute ist das Val Grande das größte Wildnis-Schutzgebiet der Alpen.
Wir sitzen mit Platen in Cannero, einem beschaulichen Örtchen am Lago Maggiore mit dem schönsten Strand weit und breit und blicken auf die gleich hinter dem Ufer steil aufragenden Hügel. Von der Ostseite ist das Tal, das seit 2013 Unesco-Geopark ist und für nachhaltigen Tourismus ausgezeichnet wurde, kaum zu erreichen. „Ich kenne kein Gebiet in den Alpen, das vergleichbar ist“, sinniert der ehemalige Lehrer und streicht sich über den Bart. „Wildbäche, verwunschene Wege, üppige Flora, viele Tiere, prähistorische Felszeichen, kein Trubel.“Die Liste ist lang.
Natürlich hat auch Platen einen Tipp. Er empfiehlt einen Nachmittagsspaziergang auf den Monte Faiè. Wieder sind es 30 Minuten Fahrt vom See aus, dann steigen wir an der Alpe Ompio auf 980 Metern aus. Über den Naturlehrpfad „L’uomo albero“(Baummensch) kraxeln wir durch Birkenhaine und dichte Buchenwälder knapp 400 Höhenmeter hoch. Es ist feuchtwarm, nachts hat es geschüttet. Sommergewitter sind typisch für das Klima des Parks. Ganz oben ziehen sich die knorrigen Bäume zurück. Die Augen schweifen weit über Lago Maggiore und Luganer See. Direkt vor uns fällt der Blick 1300 Meter tief ins Tal. Hinter uns ragen die Berghünen des Parks auf.
Wir sitzen, schauen, genießen lange.