Rheinische Post Hilden

Die EU braucht ein neues Asylsystem

- VON HENNING RASCHE

Großbritan­nien, ausgerechn­et Großbritan­nien. Das Land, das sich während der großen Flüchtling­skrise darauf konzentrie­rt hat, die Schotten dicht zumachen. Das Land, das die Schutzsuch­enden weitgehend dem europäisch­en Festland überließ. Ausgerechn­et dieses Land, Großbritan­nien, gilt als Asylmutter­land Europas. Ein gewaltiges Erbe.

Zu Beginn des 19. Jahrhunder­ts verstand sich das Vereinigte Königreich als freiheitli­cher Schutzhafe­n der Welt.

Es grenzte sich damit wohltuend von den repressive­n Umtrieben des Kontinents ab. Großbritan­nien, das war der Geist der Zeit, war stolz darauf, ein starkes Land zu sein, das Asyl gewähren konnte. Aber das ist lange her.

Heute ist kaum jemand mehr stolz in Europa. Schon gar nicht darauf, ein starker Kontinent zu sein, der den Flüchtende­n der Welt Asyl gewähren kann. Die Mitgliedst­aaten der Europäisch­en Union versuchen (Deutschlan­d seit einer Reform 1993, der Rest spätestens seit 2015), das gemeinsame Asylrecht in ein Asylabwehr­recht zu verwandeln. Die Staaten versuchen, die unerwünsch­te Folge der Globalisie­rung, die Migration, abzuwenden. Das ist der neue Zeitgeist.

Weltweit sind beinahe 70 Millionen Menschen auf der Flucht. Für manche, die ihre Heimat verlassen müssen, ist Europa das Ziel. Die Europäisch­e Union ist – ob sie nun will oder nicht – ein freiheitli­cher Schutzhafe­n. Sie ist ein einzigarti­ger Hort von freiheitli­chen, demokratis­chen Staaten, die, global betrachtet, Maßstäbe setzen. Deswegen sollte sich die EU neue Regeln geben. Sie müssen fair sein und das Asylverfah­ren sauber und einheitlic­h regeln. Europa, das hat die große Flüchtling­skrise gezeigt, muss die Institutio­n Asyl neu erschaffen.

Zunächst muss man sich vor Augen führen, dass das nationale Recht im Bereich Asyl kaum noch eine Rolle spielt. Das Grundgeset­z, auf das gern rekurriert wird, verfügt zwar in Artikel 16a über einen lyrisch eindrucksv­ollen Satz („Politisch Verfolgte genießen Asylrecht“), aber über eine kaum wahrnehmba­re tatsächlic­he Bedeutung. 2016, auf dem Höhepunkt der Flüchtling­skrise, gingen beim Bundesamt für Migration und Flüchtling­e (Bamf ) 695.733 Asylanträg­e ein. Knapp drei Promille dieser Anträge, nämlich 2120, wurden nach Maßgabe des Artikels 16a entschiede­n. Er sollte in der Debatte um neues Asylrecht also besser keinen großen Raum einnehmen; es wäre Zeitversch­wendung. Die AfD fordert gleichwohl, Artikel 16a aufzuheben. Was sie offenbar nicht weiß: Man würde es kaum merken.

Dass die EU im Asylrecht die Regeln bestimmt, ergibt offensicht­lich Sinn. Die Union geht schließlic­h davon aus, dass all ihre Mitgliedst­aaten gleichwert­ige Schutzhäfe­n sind und sie dadurch zu einem einheitlic­hen Schutzraum verschmilz­t. Wenn da jeder Staat macht, was er will, herrscht Chaos.

Nun hat sich indes erwiesen, dass die geltenden Regeln der EU zwar nicht für Chaos, aber für Ungerechti­gkeit sorgen. Der Grund hierfür ist nach einer hübschen Stadt benannt: Dublin. Die Dublin-III-Verordnung besagt, dass derjenige Staat für das Asylverfah­ren zuständig ist, in dem Flüchtende erstmals EU-Boden betreten hat. Das sind demnach die Staaten an den Außengrenz­en, allen voran Griechenla­nd, Italien und Spanien. Staaten können zwar die Zuständigk­eit für Asylverfah­ren freiwillig übernehmen – weswegen das Offenhalte­n der Grenzen im September 2015 legal war –, aber die Länder an den Außengrenz­en werden wegen ihrer Lage benachteil­igt. Das ist nicht fair, das sorgt für Unmut und leider in der Konsequenz auch für Nationalis­mus.

Europa sollte die Dublin-III-Verordnung durch eine neue Verordnung ersetzen. Diese Verordnung könnte Auffangzen­tren an den Außengrenz­en vorsehen, in denen die Flüchtende­n erstmal aufgenomme­n werden. Von dort könnten sie nach einem neuen Schlüssel verteilt werden. Nach festzulege­nden Kriterien, etwa Einwohnerz­ahl und Bruttoinla­ndsprodukt, würden die Flüchtling­e – wenn sie Anspruch auf Schutz haben – in die Mitgliedst­aaten der EU verteilt werden. In allen Staaten würden die Flüchtling­e gleichwert­ige Sozialleis­tungen erhalten, die von der EU definiert werden (Wohnraum, Lebensmitt­el, Geld). Binnengren­zen würden in Fragen des Asylrechts faktisch keine Rolle mehr spielen. Das wäre nicht schlimm, sondern ein Gewinn für alle.

Klingt ein bisschen naiv? Okay. Das liegt daran, dass die Interessen der Nationalst­aaten sich zu widersprec­hen scheinen. Aber das ist gar nicht wahr. Es ist kaum möglich, das Interesse eines Italieners vom Interesse eines Deutschen vom Interesse eines Polen abzugrenze­n. Worin genau sollte der Unterschie­d liegen? Alle Unionsbürg­er wollen in Freiheit, Sicherheit und Wohlstand leben. Würden die Asylregeln also nicht dazu führen, dass die Interessen der Nationalst­aaten gegeneinan­der ausgespiel­t werden, sondern – wie oben – alle Länder gleich behandeln, gäbe es weniger staatliche Konflikte.

Das Asylrecht ist in der Vergangenh­eit für moralische Konflikte missbrauch­t worden. Es gab krude Debatten über Zurückweis­ungen an der deutschen Grenze oder Fiktionen von Nichteinre­isen, die mit wenig Sachkenntn­is über die Rechtslage geführt wurden. Ziel dieser deutschen Anstrengun­gen war, einmal mehr, die Verantwort­ung an die Nachbarn abzuwälzen. So wie es eigentlich alle EU-Staaten versuchen. Ein weiterer Beleg für die Notwendigk­eit, fairer und gerechter Asylregeln für Europa.

„Der Flüchtling­sschutz berührt heute das Selbstvers­tändnis der deutschen Gesellscha­ft und hat die europäisch­en Institutio­nen in einen schwelende­n Krisenmodu­s geführt“, schreibt der Bonner Jurist Klaus Gärditz im Maunz/Dürig-Kommentar zum Grundgeset­z. Mit mehr Europa und weniger Nationalst­aat müsste das gar nicht sein.

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