Rheinische Post Hilden

Iraks Jugend rebelliert mit dem Fahrrad

Es gärt im Irak. Viele junge Menschen wenden sich von der Religion ab. Und sie fordern Rechenscha­ft von den Politikern.

- VON BIRGIT SVENSSON

BAGDAD Sie ist kess, selbstbewu­sst und hat keine Angst vor Tabus. Marina Jabers Fahrrad ist knallrot lackiert und fällt sofort auf. Was als Kunstperfo­rmance begann, ist mittlerwei­le zur Kampagne geworden: Zunächst radelte sie alleine durch Bagdad, gefolgt von einer Kamera. Nun hat sie Nachahmeri­nnen gefunden. Vor allem am Freitag, dem islamische­n Feiertag, fahren Frauen auf dem Rad durch Bagdad. Passanten schauen ihnen verwundert nach, manche auch mit Bewunderun­g für ihren Mut. Denn radfahrend­e Frauen sind in dem konservati­v-islamische­n Land Irak noch immer eine Seltenheit.

Bis sie zwölf Jahre alt war, habe sie ungehinder­t aufs Fahrrad steigen können, erzählt Marina in ihrem Lieblingsc­afé „Rada Alwan“im Bagdader Stadtteil Karrada. Aber als sie 13 wurde, war es damit vorbei. Marina war in der Pubertät. „Sie sagten: Du könntest dein Jungfernhä­utchen verletzen, eine Frau fährt kein Fahrrad.“Um heiraten zu können, muss ein Mädchen Jungfrau sein.

Heute ist Marina 26 Jahre alt und vor zwei Jahren das erste Mal wieder auf ein Fahrrad gestiegen, gemeinsam mit anderen Mitglieder­n der Künstlerin­itiative „Tarkib“. Sie nahm an einer Aktion für zeitgenöss­ische Kunst teil, wobei das Fahrrad ein Element der Darstellun­g war. Das hat ihr Mut gemacht. Zuerst habe sie gedacht, sie tue etwas Verbotenes, etwas, das sozial inakzeptab­el sei. Doch dann habe sie sich gefragt: „Warum machen wir bestimmte Dinge und andere nicht?“

Marina beschloss, in Bagdad herumzufah­ren. Im Viertel Karrada, wo sie zu Hause ist, und auch im Stadtteil Mansur, am Westufer des Tigris, seien die Leute aufgeschlo­ssener als in anderen Vierteln. Sie klatschten und freuten sich, als die junge Radlerin an ihnen vorbeifuhr. In Jogia oder Midan, im konservati­ven Zentrum, blieben vor allem Männer überrascht stehen und schauten der jungen Frau auf dem roten Fahrrad nach. Doch hat sie selbst dort aufmuntern­de Zustimmung bekommen. Dadurch hat sich Marinas Gesellscha­ftsbild geändert: „Anfangs war auch ich eines der Mädchen, die die Gesellscha­ft für die Einschränk­ung der Frauen verantwort­lich gemacht hat. Jetzt denke ich anders. Wir selbst haben es in der Hand, das zu ändern.“Der Irak sei anders als Saudi-Arabien, das Gesetz sei mit den Frauen. Nirgends stehe geschriebe­n, dass Frauen nicht Fahrrad fahren dürften. „Wir müssen unsere Rechte nur einfordern.“

Als Marina aufs Fahrrad stieg, gab es Streit in der Familie. Vater und Bruder reden seitdem nicht mehr mit ihr, aber die Mutter unterstütz­t sie. Ihr Verlobter hat ihr sogar ein zweites Fahrrad geschenkt. So prallen Tradition und Moderne im engsten Familienkr­eis aufeinande­r.

Marina ist kein Einzelfall im Irak. Das Land ist im Umbruch. Vor allem junge Iraker unter 25, die die Mehrheit der 33 Millionen Einwohner des Landes ausmachen, befördern eine gewisse Aufbruchst­immung, seitdem die Terrormili­z IS weitgehend vertrieben ist. Im dreijährig­en Kampf gegen den IS haben viele junge Soldaten und Milizionär­e ihr Leben gelassen, in einem Kampf, der im Namen der Religion geführt wurde. Dem sunnitisch-extremisti­schen IS stand die schiitisch-fundamenta­listische Volksbefre­iungsfront Haschd al Schabi gegenüber. Als Reaktion auf diese blutigen Jahre wenden sich nun immer mehr junge Iraker von der Religion ab. Es habe noch nie so viele Atheisten im Land gegeben wie zurzeit, hört man in den Universitä­ten.

„Ich habe gelernt, dass ich die Gesellscha­ft bin“, sagt Marina kämpferisc­h, „einer muss anfangen.“Die Initiative „Tarkib“will die Gesellscha­ft durch Kunst verändern: „Das ist die sanfteste Art und Weise.“Andere würden zu radikalere­n Methoden greifen. Derzeit gibt es Massendemo­nstratione­n von zumeist jungen Leuten im Süden des Irak und auch in Bagdad, bei denen die politische Elite hart angegangen wird. Während die jungen Leute gegen den IS kämpften, hätten sich die Politiker die Taschen vollgestop­ft, hört man in den Sprechchör­en der Demonstran­ten. Öffentlich­er Dienst, Strom- und Wasservers­orgung seien in einem miserablen Zustand, für junge Leute gebe es keine Arbeit. Und diese Lage wird sich wohl noch verschärfe­n. denn nach dem Sieg über den IS sollen die Milizen jetzt weitgehend aufgelöst werden. Wovon ihre Angehörige­n dann leben sollen, ist die große Frage.

Und dies, obwohl der Irak zweitgrößt­er Ölproduzen­t der Welt ist. Täglich werden über vier Millionen Barrel gefördert; ein Barrel entspricht 159 Litern. Da fragen sich viele, wo das Geld bleibt. 14 Tote und Hunderte Verletzte gab es bereits, doch die Wut auf das politische Establishm­ent ist dadurch nur noch größer geworden.

Während der Norden des Irak durch den Krieg gegen die sunnitisch­en Dschihadis­ten zumeist in Trümmern liegt und nur langsam wiederaufg­ebaut wird, gehen die Menschen in den Südprovinz­en auf die Straße, dort, wo überwiegen­d Schiiten wohnen. Sie demonstrie­ren gegen eine schiitisch geprägte Regierung in Bagdad, die es in all den Jahren seit dem Sturz Saddam Husseins nicht vermochte, den Alltag der Bewohner zu verbessern. „Saddam hat unsere Elterngene­ration gegenüber dem Staat schwach gemacht“, kommentier­t Marina, „die Jugend heute ist stärker.“

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FOTO: AFP Für Marina Jaber (26, vorne) ist das Radfahren auf den Straßen Bagdads zum politische­n Statement geworden.

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