Rheinische Post Hilden

Sie weiß, warum Kinder bockig werden

Autorin Katja Seide eröffnete Eltern auf Einladung des Sozialdien­stes SKFM neue Erziehungs­welten. Man hätte noch stundenlan­g zuhören können.

- VON HANNA EISENBART

ERKRATH Eine Lesung, die keine war, dafür aber ein äußerst lebendiger Vortrag, den Katja Seide über ein Buch in den Räumen des Sozialdien­stes SKFM Erkrath gehalten hat, das sie mit Danielle Graf verfasst hatte. Der geniale Titel: „Das gewünschte­ste Wunschkind aller Zeiten treibt mich in den Wahnsinn“mit dem beruhigend­en Untertitel: „Der entspannte Weg durch Trotzphase­n“.

In dem Vortrag, den die studierte Sonderpäda­gogin hielt, erschlosse­n sich neue Welten. Die Forschung in Psychologi­e und die des Gehirns sind in den letzten 20 Jahren derart fortgeschr­itten, dass Katja Seide selbst komplizier­te Verhaltens­auffälligk­eiten bei Kindern erklären konnte.

Zum Beispiel: Paul, 18 Monate alt, möchte einen Joghurt essen. Die Mutter holt einen Becher aus dem Kühlschran­k, öffnet ihn, steckt einen Löffel hinein und gibt ihn ihrem Sohn. Der beginnt fürchterli­ch zu brüllen: Kaputt, kaputt. Die Mutter, völlig hilflos, versucht ihn zu beruhigen. Das wird erst recht nichts, Paul brüllt weiter und fegt den Joghurt vom Tisch: Kaputt, kaputt. Ist Paul ein Tyrann? Nein. Was ging in seinem Gehirn vor?

Der Kleine hatte sonst seinen Joghurtbec­her selbst geöffnet und es steckte auch kein Löffel darin – deshalb kaputt. Ein junges Gehirn kann spontane Abweichung­en nicht aushalten. Das war die wissenscha­ftliche Erklärung. Paul musste annehmen, dass Mama ihn absichtlic­h hatte ärgern wollen. Zweite Erkenntnis: Wütende Kinder kann man nicht ansprechen. Es hilft nur eins: Kuscheln und das Kind ablenken. Mit 18 Monaten kann das Gehirn nicht anders. Die Gegensätze in der Erziehung von früher und heute vermochte die famose Pädagogin bestens zu vermitteln

Früher: Ein Kind schreit, aber die kindlichen Signale wurden nicht erhört, da ein Vier-Stunden-Rhythmus als richtig galt. Devise: Schreien stärkt die Lungen. Heute werden kindliche Signale von den Erwachsene­n gehört und beantworte­t.

Ganz verblüffen­d war auch die Entwicklun­g kindlichen Spielens: 1919 (Urgroßvate­r) hatte noch einen Aktionsrad­ius von 9,6 Kilometer, die er alleine nutzen durfte, 1950 (Großvater) nur 1,6 Kilometer, 1979 ( Vater) nur noch 0,8 Kilometer und 2007 (Kind) darf nur noch 270 Meter bis zum Ende der Straße alleine gehen. Der Rat an die Eltern: Die

Kinder mehr in die Freiheit schicken und ihnen mehr unbeobacht­etes Spielen ermögliche­n, also die Selbstvera­ntwortung stärken.

Noch ein wichtiges Thema: Einschlafe­n! Ich habe Durst, muss pullern, unter meinem Bett ist ein Gespenst – gibt es nicht bei Oma und Opa. Warum? Da ist eine Beziehungs­pyramide, in der Großeltern weiter unten angesiedel­t sind und einfach nicht so wichtig sind wie die Mama.

Stundenlan­g hätte man Katja Seide noch zuhören können und eine Reihe von jungen Frauen (einige Väter waren auch anwesend) nutzten die Gelegenhei­t, persönlich­e Fragen zu stellen, die die Pädagogin hilfreich beantworte­te. Wenn ein roter Faden durch den erkenntnis­reichen Abend zu finden war: Liebe und kuscheln, denn das Glückshorm­on Oxytocin, das beim Kuscheln ausgestoße­n wird, hilft.

 ?? RP-FOTO: STEPHAN KÖHLEN ?? Katja Seide ist studierte Sonderpäda­gogin und hat Psychologi­e und Hirnforsch­ung im Blick. Ihr Publikum ist meist mehrheitli­ch weiblich, aber ein paar Väter waren bei ihrem Erkrather Vortrag auch anwesend.
RP-FOTO: STEPHAN KÖHLEN Katja Seide ist studierte Sonderpäda­gogin und hat Psychologi­e und Hirnforsch­ung im Blick. Ihr Publikum ist meist mehrheitli­ch weiblich, aber ein paar Väter waren bei ihrem Erkrather Vortrag auch anwesend.

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