Jeden Tag ein neues Tor zu Bach
Die weltberühmte Geigerin Hilary Hahn hat erstmals einen Soloabend gegeben. Außerdem ist ihre Bach-Edition jetzt komplett.
WIEN Im Mozart-Saal des Wiener Konzerthauses herrscht erwartungsvolle Hochspannung, das Licht ist gedämpft und stimmt das raunend tuschelnde Publikum ein auf die wohl intimste Spielart und Königsdisziplin der Kammermusik: Violine solo. Dann tritt Hilary Hahn auf und wirkt erst klein und zerbrechlich so ganz allein auf der Bühne. Doch gleich in den ersten Tönen des Adagios der g-Moll-Sonate füllt sie mühelos den ganzen Raum mit einer strömenden Energie, die sich im Laufe des Abends bis hin zur berühmten Chaconne aus der d-moll Partita mehr und mehr steigern wird.
Hilary Hahn wurde 1979 in Virginia geboren und wuchs in Baltimore auf, ihren ersten Unterricht hatte sie bei Klara Berkovich, einer Vertreterin der russischen Violinschule. Mit
Es ist ein Gefühl der Einsamkeit, ganz allein eine große Bühne zu betreten
sechs Jahren hatte sie ihren ersten öffentlichen Auftritt, ihr Deutschlanddebüt gab sie 1995 mit dem Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks unter Lorin Maazel und zählt seither zu den Weltstars an der Geige. Wenn sie Bach spielt, vergisst man, dass die Geige ein äußerst heikles Instrument ist, auf dem die Intonation Millimeterarbeit ist. Selbst durch Bachs vertrackteste Akkord-Passagen hindurch erklingt nicht ein einziger Ton, der nicht makellos intoniert ist. Es klingt, als wären unsichtbare Schienen verlegt auf ihrer Geige, auf denen ihr Spiel völlig sicher dahingleitet mit ruhig ausschwingendem Ton, der reich ist an klanglicher Substanz, aber doch leicht und schwebend bleibt.
Das kundige Wiener Publikum folgt ihrer Bach-Exkursion gebannt, Huster und Räusperer sind an diesem Abend nicht da – oder sie vergessen zu husten. Beim brausenden Schlussapplaus gibt Hahn den Applaus zurück ans Publikum. Am nächsten Tag kommt sie frisch und sehr aufgeräumt zum Interview. Die besondere Spannung des vorigen Abends hat sie natürlich bemerkt: „Ja, aber das ist liegt an Bach, denn Bach bringt alle zusammen und kreiert eine Stimmung, in der man ganz tief in die Musik gehen kann. Und für mich ist es wie eine Meditation. In dieser Musik gibt es ganz viel Raum für mich, konzentriert zu bleiben.“
Es muss ein ziemlich einsames Gefühl sein, ganz alleine eine große Bühne zu betreten, ohne Orchester, ohne Kammermusikpartner oder wenigstens ein Klavier. Erstaunlicherweise ist diese Erfahrung neu für Hilary Hahn: „Ich bin überhaupt nicht daran gewöhnt. Das war gestern das erste Mal, dass ich ein Solo-Recital gespielt habe! Ich musste erst üben, in der Mitte der Bühne zu bleiben. Und der Gedanke, alles selbst zu machen, war ein bisschen beängstigend. Denn wenn ich nicht genug Energie habe, kriege ich ja nun keine von den anderen Musikern, ich muss alles in mir selbst finden. Aber es ist auch befreiend, und es war mir jetzt ganz natürlich.“
Bachs Solowerke begleiten Hilary Hahn seit dem Beginn ihrer Karriere, bereits bei ihrem allerersten Soloauftritt mit zehn Jahren spielte sie zwei Sätze aus der g-Moll-Sonate. Seither spielt sie in jedem Konzert mindestens ein Solo-Werk von Bach als Zugabe. Auf der Bühne in Wien fasziniert die Natürlichkeit ihrer musikalischen Gestaltung, die frisch und intuitiv wirkt. „Ich bin immer spontan. Bei Bach gibt es so viele Stimmen, so viele Phrasierungsmöglichkeiten, er hat ja fast nichts festgelegt! Nur manchmal forte oder piano, manchmal ein Tempo. Ich denke, man kann mit den Bach-Solowerken machen, was man möchte. Die wichtigen Noten, welche sind das eigentlich? Immer andere. Wenn ich eine Wiederholung spiele, variiere ich immer die Tempi, Phrasierungen und Akzente.“
Ein Konzert lebt auch von den Schwingungen im Raum und vom Dialog mit dem Publikum. Bei Aufnahmesitzungen fehlen diese Faktoren, und es stellt sich die vermutlich peinigende Frage danach, welche Version nun für die Ewigkeit festgehalten wird, abgesegnet als ultimative Interpretation. Wie entscheidet man das? Sie sagt es so: „Es gibt keine endgültige Interpretation! Denn es kommt immer darauf an, was am Tag passiert. Es ist immer nur das Beste dieses Tages, und nicht das Beste meines Lebens. Für mich ist es beim Spielen immer wichtig zu merken, wohin die Musik gehen will. Und wie kann ich das erlauben? Wie kann ich vermeiden, dagegen zu kämpfen? Wenn ich vorher zu deutlich eine Idee von der Interpretation habe und dann will die Musik woanders hin, dann kann ich ihr nicht folgen. Auch bei Aufnahmen ist es wichtig zu identifizieren: Was will die Musik heute sein? Wie kann ich das am besten zeigen?“
Musik hat für Hilary Hahn eine eigene Dynamik, die unabhängig vom eigenen Gestaltungswillen wirkt. So gibt es eben Tempi, die am einen Tag perfekt sein können und am nächsten Tag keinen Sinn machen. Es gibt also jeden Tag einen anderen Bach, eine andere Wahrheit für diese Gipfelwerke der Geigen-Literatur. Wenn es aber keine endgültige Interpretation gibt, warum lagen dann mehr als 20 Jahre zwischen der ersten und der zweiten Bach-Solo-CD? „Ich habe es eigentlich genossen, dass es noch vor mir lag. Ich spiele diese Werke so oft, und sie entwickeln sich immer. Ich hatte keine Eile. Aber jetzt habe ich gefühlt, dass es die richtige Zeit ist. Ich war bereit.“
In den 21Jahren zwischen beiden Aufnahmen ist viel passiert in der Bach-Interpretation. Viele der Spitzen-Geigerinnen und Geiger sind heute stark beeinflusst von den Erfahrungen und Erkenntnissen der historischen Aufführungspraxis, auch wenn sie nicht mit Darmseiten und barocken Bögen spielen. Zum Beispiel Patricia Kopatchinskaja, knapp drei Jahre älter als Hilary Hahn, die mit ihrem ungleich luftigeren, sehr gestischen und häufig ruppigen Spiel eine völlig andere ästhetische Auffassung vertritt. Hilary Hahn hat diese Entwicklungen sehr wohl zur Kenntnis genommen: „Als ich studierte, gab es zwar den Urtext, aber das war damals noch nicht so wichtig. Es gibt in dieser Hinsicht viel zu lernen, und wenn ich Fragen habe, wende ich mich an Kollegen, die Antworten haben. Ich höre diese Interpretationen aber genauso, wie ich weiterhin alte Aufnahmen mit Nathan Milstein höre.“
Hilary Hahns Bach-Spiel steht ganz ohne Zweifel Nathan Milstein näher als den Fexen der historischen Aufführungspraxis, und auch mit ihrer Kollegin Kopatchinskaja
und deren bisweilen exzessiver Geste hat sie wenig gemein. Hahns Spiel ist von frappierender Zeitlosigkeit und sich auf erstaunliche Weise auch selbst treu geblieben. Selbst nach mehrfachem Hören ist kein Bruch zu vernehmen zwischen der Aufnahme der 17-Jährigen und dem Bach-Spiel der nun 38-Jährigen. Kein Fortschritt im Sinne einer Perfektionierung, aber auch keine grundsätzlich veränderte Haltung. Das gängige Künstler-Klischee, das der Jugend Unbekümmertheit und der Reife Vertiefung und größeren Ernst zuschreibt, scheint hier nicht zu passen.
Die Frage amüsiert sie: „Vielleicht bin ich ja jetzt viel unbekümmerter als mit 16? Ich war ziemlich ernsthaft mit 16, ich habe viel geübt und Hausaufgaben gemacht. Ich war sehr nachdenklich, da war viel Kopf. Für mich ist es heute mit Bach viel freier geworden. Jeden Tag passiert etwas anderes im Leben, und das bringe ich heute immer mit auf die Bühne. Ich versuche die Lebenserfahrung des Tages in die Musik des Konzerts zu stecken. Was ich ausdrücken muss, fließt in das Konzert. Das habe ich früher nicht so gemacht. Ich habe versucht, eine Form zu finden, und darin zu bleiben. Mir war nicht bewusst, dass man die Dinge verbinden kann.“
Die Beschäftigung mit Bach wird für Hilary Hahn immer weitergehen, denn das Werk des Barock-Giganten scheint ihr unerschöpflich. Gut möglich, dass in zwanzig Jahren eine neue Einspielung des Bach’schen Solowerks von ihr herauskommt. „In Bach sind ja so viele verschiedene Stimmen! Ich bin vielleicht so etwas wie eine Schauspielerin in einer One-woman-Show. Ich erzähle ganz verschiedene Geschichten und zeige ganz verschiedene Charaktere. Ich kenne die Stimmen, aber was genau sie sagen werden, kommt im Moment auf der Bühne. Ja, das ist eigentlich, was ich liebe an dieser Musik, dass die verschiedenen Stimmen zur gleichen Zeit sprechen. Es ist wie ein Spiel, aber es ist eben doch kein Spiel.“