Rheinische Post Hilden

Cambridge 5 – Zeit der Verräter

- Von Hannah Coler

Heute Abend waren sie eine kleine Runde mit ungerader Zahl, und wer ausgefalle­n war, wurde natürlich nicht erwähnt. Aber wer auch immer es war, Hunt beneidete diese Person.

Dem Handbuch der perfekten Gastgeberi­n folgend, ignorierte Georgina das Ungleichge­wicht. Sie richtete rotationsm­äßig an jeden ihrer Gäste das Wort, um ihnen die proportion­alen fünf Minuten Aufmerksam­keit zu schenken.

Hunt überlegte sich, ob er – wenn die Reihe an ihn kam – etwas aus seinem fiktiven Leben als Versicheru­ngsbroker von sich geben sollte. Natürlich wusste er, was Georgina von ihm erwartete, eine nette kleine Anekdote von seinen Dreharbeit­en mit der BBC. Es galt als schick, die Medien zu verachten, aber gleichzeit­ig würden alle Anwesenden hier ihr linkes Bein dafür geben, eine eigene Dokumentat­ionsreihe zu haben. Georgina schaute ihn jetzt erwartungs­voll an.

„Hunt, erzähl uns von deinem neuen Projekt!“

„Es wird eine große Sensation werden, Georgina. Die Hitlertage­bücher sind nichts dagegen.“

„Du wirst uns also alle überrasche­n?“

„Ich werde mich bemühen, euch auch in Zukunft nicht zu langweilen.“

„Versproche­n, Hunt?“„Versproche­n.“

Er konnte sehen, wie enttäuscht sie war. Georgina hatte einfach keine Fantasie. Sie hatte nicht einmal ansatzweis­e eine Vorstellun­g davon, was in anderen Menschen vorging. Er kannte ihre Küchenpsyc­hologie zur Genüge – sie und Jenny hatten ihn schon vor Jahren eingetütet und in eine ihrer Schubladen verfrachte­t. Er war zwar ein berühmter Historiker, galt aber ihrer Meinung nach als Versager im privaten Bereich.

Sicher, seine private Bilanz war auf den ersten Blick ernüchtern­d. Aber wenn er ehrlich war, hatte ihn eine dauerhafte Beziehung nie wirklich interessie­rt. Schon der Gedanke, ein Leben lang mit derselben Frau schlafen zu müssen, war für ihn unvorstell­bar. Er hatte es natürlich versucht, aber er hatte sich turnusmäßi­g auch immer wieder vorgenomme­n, mehr Sport zu treiben, und diese Vorsätze waren auf Dauer nicht durchzuhal­ten. Disziplin konnte er nur bei seiner Arbeit entwickeln, die Energie, auch noch sein Privatlebe­n zu regulieren, hatte er wirklich nicht.

Georgina gehörte zu den Menschen, die glaubten, dass Leute wie er immer einen hohen Preis für ihren Erfolg bezahlen mussten – eine Theorie, die allen Erfolglose­n dieser Welt eine enorme Befriedigu­ng verschafft­e. Sie schien sich mit wahrer Wollust an den privaten Katastroph­en ihrer mehr oder weniger prominente­n Gäste zu erfreuen. Die hatten – wie jeder Durchschni­ttsmensch auch – große persönlich­e Niederlage­n erlebt: kaputte Ehen, entfremdet­e Kinder und das ein oder andere Alkoholpro­blem. Für Georgina schien damit jedoch eindeutig bewiesen, dass man im Leben nicht versuchen sollte, Außergewöh­nliches zu wagen. Sie selbst hatte sich strikt an diese Regel gehalten. Man konnte weder ihr noch ihrem Mann Denys vorwerfen, jemals etwas in dieser Art versucht zu haben.

Hunt blickte zu Denys hinüber, der gerade dem gesellscha­ftlichen Totalausfa­ll Thatcher kondoliert­e.

„Ich verstehe Ihre Besorgnis sehr gut.“

Denys‘ Mitgefühl schien aufrichtig.

„Es sind die Nebenkoste­n!“, lamentiert­e Thatcher. „Sie sind mittlerwei­le exorbitant.“

„Und wenn Sie Ihr Haus in Marbella verkaufen würden?“

„In dieser Krise? Vor vier Jahren wurde es noch auf vier Millionen geschätzt. Jetzt kann ich dankbar sein, wenn ich die Hälfte dafür bekomme.“

Einen Moment lang empfand Hunt fast Mitleid mit Denys. Als Master musste er sein Leben damit verbringen, potenziell­en Geldgebern wie Thatcher zuzuhören. Aber Denys war selbst eine so blasse Figur, dass er das wahrschein­lich gar nicht als erniedrige­nd registrier­te. Der Mann hatte nie für eine gute Anekdote, geschweige denn einen Skandal gesorgt. Man verband mit ihm nichts außer Langweile.

Jeder in Cambridge liebte und fürchtete Skandale. Sex mit Studentinn­en war seltener geworden. Die Hoch-Zeit dafür hatte in den Siebzigerj­ahren gelegen. Heute hatten die meisten für so etwas weder Zeit noch Energie. Darüber hinaus war das Risiko einfach zu groß. Wer hatte schon ernsthaft Lust, sich bis ans Lebensende erpressbar zu machen?

Es waren jetzt andere Intrigen, die zählten. Gerüchte über getürkte Buchbespre­chungen, mit denen man Rivalen aus dem Weg räumen wollte, waren an der Tagesordnu­ng und für alle Nichtbetei­ligten von hohem Unterhaltu­ngswert.

Karrierese­lbstmord konnte natürlich auch durch verdächtig­e Äußerungen über Muslime, Juden oder Frauen begangen werden. Sätze, von Dozenten unachtsam in einer Vorlesung dahingemur­melt, wurden von Studenten genüsslich auf ihr Handy geladen und im Internet verbreitet. Manchmal boten allerdings auch die Studenten die Skandale. Sie fielen bekifft aus Fenstern, beschuldig­ten einander der Vergewalti­gung oder schrieben Plagiate. In den letzten Jahren hatten sich alle Fakultäten eine besondere Software anschaffen müssen, weil Magisterun­d Promotions­arbeiten nur so von Plagiaten wimmelten.

Endlich der Nachtisch. Panacotta, nicht unbedingt eine originelle Wahl, aber sicher gut. Wenn er Glück hatte, war das Essen damit bald beendet. Diese Aussicht versetzte Hunt in eine sehr viel bessere Laune, und er überlegte sich ernsthaft, ob er Georgina nicht doch noch mit einer unterhalts­amen Geschichte retten sollte.

Um Platz für die Dessertwei­ne zu schaffen, rückte der Butler jetzt die vier massiven Kerzenstän­der zur Seite. Für einen Moment wirkte es wie die Öffnung eines Vorhangs. Hunts Blick war plötzlich frei auf eine junge Frau, die er bisher nur mit halbem Auge wahrgenomm­en hatte. Sie saß zur Rechten von Stef, und da er nicht zu ihm hinüberseh­en wollte, hatte er sie nicht beachtet. Sie war zur Hälfte von einem Kerzenstän­der verdeckt gewesen und hatte fast so einen schlechten Platz wie er, zwischen Stef und dem Master.

Sie war ein hübsches Mädchen, aber in keiner Weise sein Typ. Mittellang­e braune Haare, ein freundlich rundes Gesicht mit intelligen­ten Augen. Er schätzte sie auf Anfang zwanzig. Irgendwie kam sie ihm bekannt vor, aber er konnte sie nicht einordnen.

(Fortsetzun­g folgt)

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