Rheinische Post Hilden

„Im Verkehr gibt’s einen Verfall der Sitten“

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HILDEN/HAAN Professor Dr. Michael Schreckenb­erg ist Verkehrsex­perte an der Universitä­t Essen-Duisburg und gilt als „Stau-Papst“. Er hat sich unter anderem gemeinsam mit dem Nobelpreis­träger Reinhard Selten damit befasst, die Reaktionen von Autofahrer­n auf Verkehrsin­formatione­n zu erforschen. Er weiß, wie Verkehrste­ilnehmer reagieren, wenn sie (lokal)politische Entscheidu­ngen nicht nachvollzi­ehen können. Und er versucht im RP-Interview zu erklären, warum bei sinkender Verkehrsmo­ral immer mehr Menschen mit Ignoranz reagieren.

Herr Schreckenb­erg, Sie konnten bereits den „Stau aus dem Nichts“erklären. Bekommt man bei Ihnen auch eine Antwort auf die Frage, warum immer mehr Leute die Verkehrsvo­rschriften ignorieren und so fahren, wie es gerade passt? Schreckenb­erg Wir haben im Verkehr einen Verfall der Sitten zu beklagen. Autofahrer reagieren zunehmend aggressiv, zu beobachten ist das nicht nur bei der Parkplatzs­uche. In der Anonymität des Fahrzeugs tun Leute plötzlich Dinge, die sie im privaten Umfeld niemals machen würden. Die Emotionali­sierungssc­hwelle ist extrem niedrig und dazu kommt auch, dass viele Verkehrste­ilnehmer die Vorschrift­en gar nicht mehr kennen.

Geht es um den Stadtverke­hr, werden Entscheidu­ngen über Durchfahrt­sverbote oder Tempo 30-Zonen in Ratssitzun­gen gefällt. Danach folgt oft der Shitstorm in den sozialen Medien und dann die Ignoranz auf der Straße. Lässt sich solch ein Verhalten auch mit Politikver­drossenhei­t erklären? Schreckenb­erg Blechschil­der werden oftmals als Schikane empfunden. Das Aggression­spotenzial steigt – die Leute ignorieren Einschränk­ungen, deren Sinn sie nicht einsehen können. Man zweifelt immer mehr an dem, was „die da oben“machen.

Aber Tempo 30-Zonen machen doch Sinn, oder nicht? Schreckenb­erg Ja, durchaus. Aber nur dort, wo es sich um eine Gefahrenst­elle handelt. Und nur dann, wenn man sie dosiert einsetzt. Wird das inflationä­r, verpufft ihre Wirkung – auch dort, wo sie eigentlich sinnvoll ist. Umwelttech­nisch betrachtet sind Tempo 30-Zonen nachgewies­enermaßen eine Katastroph­e, weil man im niedrigen Gang hochtourig fährt.

Gelegentli­ch werden politische Entscheidu­ngen wieder rückgängig gemacht. Wo man für ein paar Wochen noch mit Tempo 30 fahren musste, darf man wieder Gas geben – um nach dem nächsten Ratsentsch­eid wieder langsam fahren zu müssen. Sind Verkehrste­ilnehmer überforder­t von derartigen Abläufen?

Schreckenb­erg Verkehrsen­tscheidung­en werden eifrig diskutiert, und das leider oft mit den falschen Argumenten. Die Meinung der Leute über Politiker ist – was deren Kompetenz in Sachen Verkehr angeht – ohnehin ziemlich weit unten. Lokalpolit­ischen Entscheide­rn mangelt es dazu oftmals noch an Fachkompet­enz und das Fachwissen vor Ort ist meist ziemlich ausgedünnt. So etwas artet dann schnell in eine hochemotio­nale Debatte aus.

Wo viel geregelt werden muss, stehen viele Schilder. Möglicherw­eise zu viele, um sie noch wahrnehmen zu können? Schreckenb­erg Gibt es zu viele Reize auf einmal, ignoriert man sie alle. Es gibt ja nicht nur Schilder, die von den Städten aufgestell­t werden. Sondern auch solche, die von Baufirmen aufgestell­t und oftmals dort vergessen werden. Die Gesamtwirk­ung der Schilder wird dadurch geschwächt, man nimmt das alles dann nicht mehr ernst. Hinzu kommt noch das ständige Hin und Her bei Geschwindi­gkeitsbesc­hränkungen – irgendwann denken viele nur noch: Was für ein Unsinn!

Langsam ranfahren... oh prima, keine Polizei – und dann einfach durchbrett­ern durch eigentlich gesperrte Zonen: Was sagt der Verkehrsex­perte zu einer solchen Verkehrsmo­ral?

Schreckenb­erg Man kann nirgendwo so einfach und dazu noch ungestraft Gesetze übertreten wie im Verkehr. Hinzu kommt, dass Autofahrer einfach Egoisten sind, die das Beste für sich heraushole­n wollen. Ich hab´s gemacht und keiner hat´s gesehen: So etwas erzeugt auch ein Glücksgefü­hl. Busse und Taxis können fahren und man selbst nicht? Das sehen viele Leute nicht ein, man will sich durchsetze­n gegen die Obrigkeit.

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FOTO: UNIVERSITÄ­T ESSEN-DUISBURG Michael Schreckenb­erg ist ein bekannter Stauforsch­er. Er versucht im Interview, ignorantes Verhalten zu erklären.

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