BVB sorgt sich um deutschen Nachwuchs
Der nationale Fußball werde links und rechts überholt, klagt der Dortmunder Sportdirektor Michael Zorc.
DORTMUND Die Feststellung ist nicht neu. Aber sie ist alarmierend. Diesmal wird sie in Dortmund erhoben. Michael Zorc, Sportdirektor des Bundesliga-Tabellenführers Borussia, sagt in einem Gespräch mit dem Mitgliedermagazin des Vereins: „Wir haben im deutschen Nachwuchs zurzeit nicht diese absolute Topqualität. Ich habe das Gefühl, dass der deutsche Fußball links und rechts überholt wird.“Dieses Gefühl teilt Lars Ricken, der seit Jahren sehr erfolgreich die Jugendarbeit des Klubs koordiniert. Er zeigt auf die Bilanz der Nachwuchsmannschaften im Deutschen Fußball-Bund. Und er betont: „Das Abschneiden in den vergangenen Jahren war, von Ausnahmen abgesehen, nicht so gut.“
Zu einem ganz ähnlichen Eindruck gelangt Stefan Kuntz, der Trainer der deutschen U21, bereits im Sommer. Es steht noch nicht einmal fest, dass die Nationalmannschaft sich bei der Weltmeisterschaft auf schwer vorstellbare Weise blamieren wird, da erklärt Kuntz in einem Gespräch mit unserer Redaktion: „Derzeit überholen uns andere Nationen. Sie sind uns gegenüber in vielen Bereichen schneller, dynamischer und genauer – sie haben ihr System weiterentwickelt, angepasst und setzen diese Veränderungen auch um.“
Der Umkehrschluss: In Deutschland werden Ausbildung, Talentsichtung und Trainingsinhalte offenbar nicht angepasst. Kuntz sieht nicht nur fußballerische Mängel, sondern auch klare Defizite in der Persönlichkeitsentwicklung. „Einstellung und Mentalität der Jugendlichen nehmen neue Formen an“, sagt er. Und als er merkt, dass das ein wenig allgemein und damit beschönigend klingt, antwortet er auf die Frage, ob es dem deutschen Nachwuchs zu gut gehe: „Dieses Gefühl kann man nicht von der Hand weisen.“
Später im Sommer, als die A-Nationalmannschaft nach einer verheerenden WM-Vorrunde schon wieder zu Hause ist, wird er bei einem Trainerkongress in Dresden noch konkreter. „Die Talente in den U-Mannschaften werden weniger, das ist ein Alarmzeichen“, sagt Kuntz, „den Spielern wird zu viel abgenommen, sie regeln die Konflikte nicht mehr. Und wenn es bei einem Verein nicht klappt, wird einfach der nächste genommen. Dann kommt aber irgendwann der Punkt, an dem du gegen einen gleichstarken Gegner spielen musst, der diese Durchsetzungsfähigkeit hat.“Was er nicht sagt, was aber jeder hört: Die frühzeitige Rundumversorgung 20-jähriger Großverdiener führt zu Wettbewerbsnachteilen.
Es ist überhaupt kein Zufall, dass sich diese Wettbewerbsnachteile deutscher Nachwuchsspieler nicht nur im Abschneiden der DFB-Juniorenmannschaften offenbart. Sie zeigt sich auch in den Aufgeboten vor allem der führenden Teams in der Bundesliga. Beim BVB spielen Jadon Sancho (18), Jacob Bruun Larsen (20), Christian Pulisic (20) und Dan-Axel Zagadou (19) wesentliche Rollen. Für Bayern München stürmt Kingsley Coman (22), in Mönchengladbach verteidigt Nico Elvedi (22), für Eintracht Frankfurt greift Luka Jovic (21) mit Gerd-Müller-Torquoten an. Und Schalke (noch nicht wieder führend) leistet sich als Wette auf eine vielversprechende Zukunft das 18-jährige Talent Rabbi Matondo für stolze neun Millionen Euro. Auf dem heimischen Markt und in der zu Recht immer mal wieder gefeierten Knappenschmiede von Norbert Elgert, die in vergangenen Jahren zuverlässig Nachschub für den Profifußball schuf, gibt es offensichtlich kein geeignetes Angebot.
Was tun? Der DFB setzt mit einem an Wunderglauben grenzenden Vertrauen auf seine neue Akademie, die Ausbildung und Forschung auf dem Gelände der ehemaligen Frankfurter Galopprennbahn konzentrieren soll. Von den Möglichkeiten der neuen Fußballzentrale des Landes ist vor allem Oliver Bierhoff restlos begeistert. Das ist kein Wunder, denn er betreibt den Bau der Akademie mit dem Nachdruck des DFB-Direktors, der für die Nationalmannschaften und die Fußballentwicklung zuständig ist.
Ricken, der an der Basis vermutlich
einen noch etwas tieferen Einblick in die Materie gewonnen hat, sieht ein besonderes Problem der deutschen Nachwuchsspieler nicht nur in der Überversorgung durch Klubs und Spielerberater und der Unterversorgung mit Durchsetzungswillen und kreativem Umgang mit schwierigen Situation. Er glaubt, dass deutsche Spieler „im internationalen Vergleich ein bis zwei Jahre hinterherhinken“, weil sie das deutsche Schulsystem ganz anders fordert als die Kollegen im Ausland. Es sei ein Unterschied, „ob du morgens um acht Uhr individuell trainierst, danach sieben Stunden Schule hat und am Abend erste ien Mannschaftseinheit absolvierst, oder ob du dich – wie in England – schon in so jungen Jahren vornehmlich auf den Fußball konzentrieren kannst“.
Das Schulsystem kann und wird Ricken selbst mit der Autorität des Nachwuchskoordinators von Borussia Dortmund nicht ändern können. Das weiß er, mahnt allerdings, es gebe Optimierungsbedarf. Derartige Erkenntnisse bewirken noch keinen Umschwung. Auch das weiß Ricken. Denn es handelt sich nach seiner Meinung nicht um ein Problem im „Bereich der 16- bis 20-Jährigen, man muss die Thematik leider größer fassen“. Leider.