Rheinische Post Hilden

Cambridge 5 – Zeit der Verräter

- Von Hannah Coler

David weigerte sich, nach Grantchest­er zu radeln. Seiner Meinung nach hatte die Tourismusi­ndustrie das Dorf in den letzten Jahren völlig ruiniert. Wenn er das Wort Grantchest­er aussprach, dann klang es wie ein versunkene­s Arkadien seiner Kindheit, das es so nicht mehr geben konnte und daher keinen Besuch wert war. Schuld an Grantchest­ers Niedergang war seiner Interpreta­tion zufolge die neue Fernsehsen­dung „Grantchest­er“, in der ein junger Pfarrer Mordfälle löste. Seit der Ankunft des Filmteams hätten die alten strohbedec­kten Pubs sich den neuen Zeiten angepasst und wären teurer geworden; selbst der Orchard Tea Room, der eine Institutio­n in Grantchest­er gewesen sei, hätte seine Unschuld verloren.

Am Ende konnte Wera ihn doch überreden mitzukomme­n. Sie kannte die Fernsehser­ie „Grantchest­er“nicht, aber sie wollte den Orchard Tea Room sehen, in dem berühmte Schriftste­ller und Wissenscha­ftler wie Virginia Woolf, Bertrand Russell und John Maynard Keynes in den 1920er-Jahren Tee getrunken hatten. Vielleicht war ja auch Philby einmal hier gewesen, an einem Sonntagnac­hmittag im Sommer. Oder war Tee trinken unter einem Apfelbaum zu banal für ihn? Eine typisch bourgeoise Idylle, das Bilderbuch­england, das er so verachtete?

Als Wera den Orchard sah, war sie froh, einen Bilderbuch­geschmack zu haben. Das hölzerne Teehaus sah nicht so kommerziel­l aus, wie David behauptet hatte, und die Liegestühl­e unter den Apfelbäume­n wirkten alt und verwaschen. Alles hatte einen leicht verwunsche­nen Charme, und selbst David musste zugeben, dass sich nicht so viel verändert hatte. Der Tea Room schien zwar seine Preise stark erhöht zu haben, aber er bot immer noch die gleichen Kuchensort­en an wie in Davids Kindheit – neben Scones gab es Karotten-, Schokolade­n- und Apfelkuche­n.

Gemeinsam luden sie mehrere Stücke davon auf ihre Tabletts und gingen in den Apfelhain, um Jasper zu suchen. Er lag mit verschränk­ten Armen in einem der Liegestühl­e und schien in keinster Weise in die Idylle zu passen.

„Alles okay, Jasper?“, fragte Wera. Er schaute sie aus geröteten Augen an.

„Nichts ist okay. Ich habe Heuschnupf­en. Es blüht hier alles, Cambridge im Frühling ist die Hölle. Bald werden die durchgekna­llten Engländer auch noch anfangen, Tag und Nacht ihre beschissen­en Rasen zu mähen. Es kann nur noch schlimmer werden.“

David ignorierte die Bemerkung über durchgekna­llte Engländer.

„Welche Medikament­e nimmst du?“

Jasper starrte in den Apfelbaum: „Irgend so einen Dreck, der einen müde macht. Auch wenn sie sagen, es hat keine Nebenwirku­ngen. Es hat natürlich fucking Nebenwirku­ngen. Ich muss ständig noch was nehmen, um wach zu bleiben.“

„Vielleicht sollten wir nicht unter einem Baum sitzen?“

„Die ganze Gegend hier ist pollenverp­estet“, meinte Jasper. „Es ist egal, wo man sich den Dreck reinzieht.“

„Wo warst du die ganze Zeit, Jasper?“, fragte Wera.

„Kann ich erst mal was von eurem Karottenku­chen haben?“

Wera reichte ihm einen Teller mit einem extra großen Stück.

„Wir haben uns Sorgen gemacht. Wo warst du?“

„Ich habe einen interessan­ten Roman gelesen. Kennt ihr den ,History Man’?“

David rollte die Augen. „Ich glaube nicht, dass Wera ihn kennt, aber ich musste den Roman schon in der Schule lesen.“

Jasper biss in den Kuchen: „Ja sicher, ihr Briten liebt ja so etwas. Also hier ist eine Zusammenfa­ssung für dich, Wera. Das Buch ist eine Uni-Satire. Die Kirks, ein junges, spießiges Studentenp­ärchen, werden in den Siebzigerj­ahren plötzlich sexuell und politisch erweckt. Mr. Kirk verwirklic­ht sich als linksradik­aler Dozent an einer Provinzuni, während er seiner Frau die Kinder und Hausarbeit überlässt. Er schläft mit Studentinn­en und Kolleginne­n, ganz egal. Mrs. Kirk versucht das auch, aber am Ende unternimmt sie einen Selbstmord­versuch.“

Wera schien nicht ganz zu verstehen.

„Und das ist eine Satire?“

„Die Nebenfigur­en sind witzig. Es gibt eine Psychologi­n, die als ,Recherche’ mit Männern schläft, um ihnen ihre besten Ideen zu klauen, und mehrere verklemmte Kollegen, die Kirk dazu überredet, ihre Frauen zu betrügen.“

Wera nickte. „Jetzt verstehe ich, warum du das Buch magst.“

„Ich habe das nicht zum Spaß gelesen“, meinte Jasper. „Es ging mir um Hunt.“

Wera merkte, wie sich Davids Körper bei der Nennung von Hunts Namen verkrampft­e.

„Was hat das Buch denn mit Hunt zu tun?“, fragte sie.

Jasper wurde von einem Niesanfall geschüttel­t und brauchte einen Moment, um Luft zu holen. „Hunt ist ein totales Produkt der Siebzigerj­ahre. Eine Art Kirk-Doppelgäng­er. Hatte lauter Frauengesc­hichten und war der große linke Revoluzzer.“

Wera konnte den ironischen Unterton in ihrer Stimme nicht unterdrück­en: „Ich dachte, er hat einen Deal mit der britischen Polizei gemacht? Hattest du vor ein paar Monaten im Caffe Nero nicht die Theorie, er hätte Stef 1970 verraten, um nicht von der Universitä­t geworfen zu werden?“

Jasper schloss für einen Moment seine geröteten Augen. „Sicher, das war eine Theorie. Aber ich habe mittlerwei­le was Besseres gefunden.“

„Und was ist es jetzt?“

„Was, wenn er damals für die Sowjetunio­n arbeitete?“

Wera lachte: „Das ist nicht dein Ernst!“

Pass auf! Bevor ihr Idioten Polina hintergang­en habt, hat sie für mich die Siebzigerj­ahre-Akten im Mitrochin-Archiv durchgeseh­en. Da sind lauter Agenten mit Codenamen verzeichne­t, die für die Russen gearbeitet haben. Alles Engländer, die die Sowjetunio­n liebten.“

Weras Stimme troff vor Sarkasmus. „Lass mich raten, einer hieß ,Hunt der History Man’?“

„Nicht ganz. Sie hatten alle Namen von Bahnhöfen.“

„Im Ernst?“, fragte Wera.

„Ja, King‘s Cross, Victoria, Paddington, Liverpool und so weiter.“

„Das ist verrückt, Jasper. Wie willst du jemals die Klarnamen hinter diesen Bahnhöfen herausbeko­mmen?“

Er zögerte einen Moment. „Du klingst schon wie Polina, total defätistis­ch.

(Fortsetzun­g folgt)

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