Rheinische Post Hilden

Ethnologin der Zwischenme­nschlichke­it

Die gefeierte französisc­he Schriftste­llerin Annie Ernaux las im Heine-Haus. Das Interesse an der 78-Jährigen war überwältig­end.

- VON PHILIPP HOLSTEIN

Die Revolution der Literatur trägt eine hellgrüne Seidenblus­e; sie wirkt heiter, aber ein bisschen müde. Annie Ernaux ist aus Cergy bei Paris gekommen, um ihr Buch „Der Platz“vorzustell­en, und das Heine-Haus ist proppenvol­l. Bis hoch auf die Treppenstu­fen sitzt das Publikum, viele mussten sogar fortgeschi­ckt werden. Im Original erschien der schmale Band bereits 1984, und er hat einige Schriftste­ller inspiriert, ihr eigenes Umfeld soziologis­ch wie Wissenscha­ftler zu betrachten und in der ersten Person über ihr Leben zu schreiben. Inzwischen ist Autofiktio­n der letzte Schrei auf dem Buchmarkt, „dernier cri“sozusagen, das beweist unter anderem der weltweite Erfolg von Karl Ove Knausgård. Und damit keine Missverstä­ndnisse aufkommen, sagt Ursula Hennigfeld, die Moderatori­n des Abends, gleich mal, was Sache ist: „Annie Ernaux ist nicht Teil des Trends, sie ist der Trend.“

Ernaux schreibt experiment­ell, aber ohne Leser zu verschreck­en. Sie ist mit allen Wassern der Theorie gewaschen, zwischen den Zeilen grüßen Pierre Bourdieu und Roland Barthes, aber ihre Sprache ist nicht von Fach-Chinesisch durchwirkt. Sie nimmt die Leser an die Hand, sie führt sie durch ihre Biografie. Und sie vermittelt einem, wie man das eigene Selbst und die eigene Vergangenh­eit respektvol­l und ohne falsche Idealisier­ung einholen und begreifbar machen kann.

In „Der Platz“erzählt Ernaux von ihrem Vater, der einst Vorarbeite­r war und schließlic­h ein Geschäft mit angeschlos­senem Café eröffnete. Dieser leichte gesellscha­ftliche Aufstieg ging einher mit der immerwähre­nden Angst, das Erreichte wieder zu verlieren. Ernaux studierte, sie entfernte sich von den Eltern, fühlte sich deswegen schuldig, und sie schildert die Scham, die bei Besuchen daheim stets im Raum stand. „Klassenflu­cht“und daraus resultiere­ndes „unglücklic­hes Bewusstsei­n“hat Bourdieu das genannt.

„Der Platz“sei ihr wichtigste­s Buch, sagt Ernaux. Neun Jahre habe sie es in sich getragen, der Tod ihres Vaters sei der Auslöser gewesen, es sollte die Distanz zwischen ihm und ihr überbrücke­n. Ernaux arbeitete lange als Lehrerin, sie spricht klar, mit milder Strenge, die Hände unterstrei­chen das Gesagte. Dialogszen­en liest sie wie im Hörspiel, sie variiert Tempo und Lautstärke. Rudolf Müller trägt die Übersetzun­g vor. Ein starkes Gefühl sei stets der Ausgangspu­nkt für ein Buch, erzählt Ernaux. Das sei mitunter über Jahre hinweg spürbar, dann trete es deutlich zu Tage, und sie beginne mit der Niederschr­ift. So ist denn ihre oft als sachlich missversta­ndene Literatur zwar unsentimen­tal, aber nicht ohne Emotion. In Frankreich ist Ernaux längst ein Star, der junge Wilde Èdouard Louis nennt sie sein Vorbild, der Soziologe Didier Eribon zitiert sie in „Rückkehr nach Reims“. In Deutschlan­d wurden einige ihrer Bücher zwar übersetzt, waren aber längst vergriffen, als Suhrkamp Ernaux dem Publikum 2017 mit dem Band „Die Jahre“neu vorstellte. Wer ihre Bücher aneinander legt, hat eine Biografie vor sich, ein Frauenlebe­n im 20. Jahrhunder­t, etwas Wahrhaftig­es. Eine Art akademisch­e „Comédie humaine“.

Ernaux ist eine Ethnologin ihrer selbst. Sie registrier­t kleinste Verschiebu­ngen im Spannungsf­eld der Zwischenme­nschlichke­it. Sitten,

Gebräuche, Formulieru­ngen, Gesten, Tonalitäte­n, Gestimmthe­iten. Ihre Bücher dokumentie­ren auch das Integratio­nspotenzia­l des republikan­ischen Schulsyste­ms. Die französisc­he Literatur kannte Helden wie Ernaux’ Vater ja kaum, einen Mann, der eben nicht an Kunst, Literatur und den schönen Dingen interessie­rt ist. So hat Ernaux die Literaturg­eschichte nicht nur um ein Verfahren bereichert, sondern auch um Stoffe und Motivik.

Bücher sind Spiegel, hat André Gide gesagt. In ihnen sähen wir nicht das, was wir effektiv schon seien, sondern das, was wir erst noch werden wollten. Sehr viele lassen sich an diesem Abend ein Buch von Ernaux signieren. Sie stellen sich an, um einer Frau nahezukomm­en, die sie nach Lektüre ihrer Bücher so gut zu kennen meinen wie eine nahe Verwandte.

 ?? GEORG SALZBURG FOTO: ?? Star der französisc­hen Literatur, Trendsette­rin des autofiktio­nalen Schreibens: Annie Ernaux im Heine-Haus. Ihr Auftritt wurde vom Institut français mitveranst­altet.
GEORG SALZBURG FOTO: Star der französisc­hen Literatur, Trendsette­rin des autofiktio­nalen Schreibens: Annie Ernaux im Heine-Haus. Ihr Auftritt wurde vom Institut français mitveranst­altet.

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