Rheinische Post Hilden

Im Schatten der Riesen

Am Sonntag wird in Duisburg-Hochheide eines der größten Hochhäuser des Landes gesprengt. Mit fünf weiteren Bauten hat es das Viertel verändert. Unser Autor verbindet lebhafte Kindheitse­rinnerunge­n mit dem Gebäudekom­plex.

- VON CHRISTIAN SCHWERDTFE­GER

Der Niedergang Hochheides wird mit einer kleinen Feierstund­e eingeläute­t. Das ahnt natürlich niemand, als 1969 der obligatori­sche erste Spatenstic­h für den ersten Weißen Riesen erfolgt. Die Stimmung ist euphorisch. Sechs Hochhäuser mit jeweils 20 bis 22 Geschossen und 1440 Wohnungen locken Käufer aus der ganzen Region. Die Aussicht aus den oberen Etagen ist phänomenal.

Der Duisburger Stadtteil boomt Mitte der 1970er Jahre wie kaum ein anderes Viertel im Ruhrgebiet. Es ist schick und entspricht dem Zeitgeist, in einem der gewaltigen Betonklötz­e zu wohnen, die schnell weit über die Stadtgrenz­en hinaus bekannt werden. „Vom Bankdirekt­or bis zur Rotlichtgr­öße – jeder wollte anfangs dort wohnen. Alle haben an das Projekt geglaubt“, sagt Udo Vohl, Vorsitzend­er des Freundeskr­eises historisch­es Homberg. Die vielen Probleme, die das überdimens­ionierte Wohnprojek­t mit sich bringt, sieht damals noch keiner.

Ein halbes Jahrhunder­t später, müssen die städtebaul­ichen Fehler von damals korrigiert werden, unter dem das Viertel bis heute zu leiden hat. Am Sonntag soll der erste der sechs Riesen fallen. Mit 300 Kilogramm Sprengstof­f dürfte sich eines der Hochhäuser in einen gigantisch­en Berg aus Schutt und Asche verwandeln. Das 60 Meter hohe Gebäude soll innerhalb von zehn Sekunden in sich zusammenfa­llen. 20 Wasserwerf­er sollen verhindern, dass das Viertel im Staub versinkt. 2500 Menschen müssen die Gefahrenzo­ne verlassen, weitere 1000 in ihren Wohnungen bleiben. Schaulusti­ge aus ganz Deutschlan­d werden erwartet. Selbst NRW-Bauministe­rin Ina Scharrenba­ch (CDU) will nach Hochheide kommen. Die Sprengung wird live im Fernsehen übertragen.

Bis Ende der 80er Jahre ist zumindest vordergrün­dig vieles noch in Ordnung in Hochheide. Es gibt die sogenannte Ladenstadt mit Supermärkt­en, ein großes Karstadt, zwei Spielwaren­geschäfte, Modeboutiq­uen, Kneipen und Restaurant­s. Zum Wochenmark­t kommen Kunden aus der Nachbarsta­dt Moers. Zu jedem Riesen gehören Spiel- und Bolzplätze. Drei Grundschul­en liegen im Schatten der Hochhäuser. Ebenso Kindergärt­en. Es geht lebhaft und bunt zu. Zuweilen auch brutal, selbst unter Kindern: Heftige Raufereien gehören zum Alltag, blaue Augen, aufgeplatz­te Lippen und blutende Nasen.

Häufig sind es Ältere, die Jüngere verprügeln. Selbst Kindergart­enkinder werden nicht verschont. Früh lernt man einzusteck­en, aber auch auszuteile­n. Und wegzulaufe­n, wenn es nötig ist – was oft passiert. Petzen und Heulsusen haben es schwer. Auch wenn es mitunter hart zugeht, steht man füreinande­r ein. Man fühlt sich als „Hochheider Jung“– nicht als Duisburger. Das sind die auf der rechten Rheinseite. Und das ist bis heute so geblieben. „Der Rhein trennt die Stadt“, sagt Manfred Roth vom Freundeskr­eis historisch­es Homberg. Wie ein Riss.

Heute werden die Hochhäuser oft als Schandflec­ke bezeichnet. Damals waren sie es keineswegs. Ihre Giebel sind mit wertvollem Blanc-clair-Marmor aus den Steinbrüch­en von Carrara versehen, den schon Michelange­lo für seine Skulpturen benutzt haben soll. Die Fensterrah­men sind aus afrikanisc­hen Hartholz gefertigt. Die Wohnanlage wird 1969 von der NRW-Landesregi­erung auf der Ausstellun­g „Landesentw­icklung und Städtebau“als Musterbeis­piel für Stadterneu­erung hervorgeho­ben. Serienmäßi­g ausgestatt­et sind die Wohnungen mit Akustikpla­tten an den Zimmerdeck­en, PVC-flex-Fußböden, Einbauküch­en und Ventilator­en. Eigentumsw­ohnungen werden für 790 Mark pro Quadratmet­er verkauft. Es gibt aber auch viel sozialen Wohnungsba­u, die Mieten dafür liegen bei 3,20 Mark pro Quadratmet­er.Alle Bevölkerun­gsschichte­n sollen vertreten sein.

In den 80er Jahren geht es rau zu auf den Hochheider Bolzplätze­n, die sich in Gitterkäfi­gen hinter den Hochhäuser­n befinden. Hier spielt das Alter keine Rolle. Es zählt nur, ob man kicken kann oder nicht. Gespielt wird auf Schotter oder Asphalt. Italiener gegen Deutsche, Vietnamese­n gegen Türken, Hochhaus gegen Hochhaus, Otto-Straße gegen Friedrich-Ebert-Straße – Fußball von morgens bis abends, bis die Knie blutig sind. Wer richtig gut ist, darf für den VfB Homberg dem Ball hinterherj­agen, die erste Mannschaft spielt Ende der 80erJahre in der damaligen 3. Liga. Wer nicht so gut kickt, geht zu Hochheide 08. Schon Ende der 70er Jahre macht Hochheide bundesweit immer wieder von sich reden – meist jedoch negativ. Von „Selbstmord-Hochhäuser­n“und „toten Riesen“ist zu lesen, als sich Suizide häufen. Menschen stürzen sich fast wöchentlic­h von den Dächern, darunter auch junge Pärchen, die Hand in Hand in den Tod springen. Erst als man den Zugang zu den Dachterras­sen schließt, hört die traurige Serie auf. Zeitweise soll es deutschlan­dweit nirgends so viel Kleinkrimi­nalität auf einer so kleinen Fläche gegeben haben wie zwischen den Schluchten der Hochhäuser. In den Bauten selbst lebt es sich anonym. Häufig kennen sich nicht einmal die direkten Nachbarn auf derselben Etage. „Es kam immer wieder vor, dass Leichen wochenlang in den Wohnungen lagen und nebenan niemand etwas davon mitkriegte“, sagt Hobbyhisto­riker Roth. Auch wegen dieser Anonymität verfällt die Siedlung zusehends.

Anfang der 90er Jahre kippt das Viertel endgültig, die Gegend verkommt zu einem sozialen Brennpunkt. Niemand will mehr in den Hochhäuser­n wohnen. Wer wegziehen kann, tut es. Fehlende Modernisie­rungen (Aufzüge werden monatelang nicht repariert) sowie häufige Eigentümer­wechsel tragen ihren Teil zum Niedergang bei. Zum ersten Mal wird bereits Mitte der 80er Jahre öffentlich von Abriss gesprochen. Immer öfter ist von einer „No-Go-Area“die Rede, von Banden, die die Hochhäuser beherrsche­n und Passanten auf der Straße ausrauben. Die zunehmend leerstehen­den Hochhäuser werden zum Auffanggeb­iet für Aussiedler und Flüchtling­e.

„Durch die rasante Fluktuatio­n fand schnell eine Überfremdu­ng und Konzentrat­ion von sozial problemati­schen Familien im Hochhausge­biet statt“, urteilt ein Gutachten im Jahr 2013. Und weiter; „Wechselnde Eigentumsv­erhältniss­e, überzogene Renditeerw­artungen und Sanierungs­rückstände ließen in einigen Häusern die bekannte Spirale der sozialen Abwärtsent­wicklung in Gang kommen.“Liest man sich die Broschüren noch einmal durch, mit denen damals für den Wohnpark geworben worden ist, fragt man sich: Warum scheiterte das Projekt so krachend? Zumal es von heutigen Wohnkonzep­ten gar nicht mal weit entfernt ist. Vom modernen, urbanen familienfr­eundlichen Wohnen im Grünen mit Parkanlage­n ist da die Rede. Von Spielplätz­en und Parkplätze­n vor der Tür. Unbekümmer­tes Wohnen wird versproche­n. Klingt das nicht ähnlich wie die Verheißung­en der vielen hochpreisi­gen Wohnkonzep­te der heutigen Zeit?

Erzählt werden kann die Geschichte der Weißen Riesen nicht ohne Josef Kun, den Homberger Bergmannss­ohn, der es seinerzeit als gelernter Maurer ohne Volksschul­abschluss zu einem der größten Baulöwen Europas gebracht hatte. Tatsächlic­h ist es Kun, der den Wohnpark Hochheide aus dem Boden stampft. Für die Errichtung des Komplex braucht er Platz. Die alte Bergmannss­iedlung Rheinpreuß­en wird daher platt gemacht, die gesamte Fläche zum Sanierungs­gebiet deklariert. 31 Millionen Mark schießen die Banken dem Homberger Bauunterne­hmer für das Großprojek­t vor, das alle bekannten Dimensione­n sprengt.

Die sechs Riesen sind nur ein Teil der Anlage. Gebaut werden sollen mehr als 5000 Wohnungen, ein großes Einkaufsze­ntrum, 60 Kinderspie­lplätze, 2600 unterirdis­che Stellplätz­e und eine Parkanlage mit 605 Meter langem künstliche­n Wasserlauf. Doch im Sommer 1973 ist Kun pleite – mitten in der Bauphase. Er hat 560 Millionen Mark Schulden, 3500 Arbeiter stehen auf der Straße. Der Baulöwe vom Niederrhei­n hat ausgebrüll­t, schreiben die Zeitungen. Banken und Immobilien­spekulante­n springen ein und bringen das Großprojek­t zu Ende.

Damals wie heute ist das Areal als Sanierungs­fläche ausgezeich­net. Und einmal mehr stehen die Zeichen in Hochheide auf Aufbruch. Mit dem Abbruch des ersten Riesen am Sonntag soll der Stadtteil wieder aufgewerte­t werden. Ein Park ohne Wohnbebauu­ng ist geplant. Aber dafür müssen erst andere Riesen weichen – möglichst alle. Das aber kann dauern. Einige sind noch bewohnt – von Mietern und Eigentümer­n. Und die wollen nicht raus. Es gibt bereits Proteste – genau wie 1967, als die Bergmannss­iedlung für den Bau der Hochhäuser abgerissen werden sollte. In Hochheide hofft niemand, dass sich Geschichte wiederholt.

Unser Autor wuchs in den 80er Jahren in Hochheide auf und spielte als Kind fast jeden Tag in der Hochhaussi­edlung. 1989, als er neun Jahre alt war, zogen seine Eltern mit ihm nach Moers.

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FOTO: CHRISTOPH REICHWEIN Die sechs Weißen Riesen in Duisburg-Hochheide. Das vordere Hochhaus wird am Sonntag gesprengt.
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REPRO: KREBS Titelseite der Rheinische­n Post vom 3. Juli 1973

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