Cambridge 5 – Zeit der Verräter
Am Wochenende durfte ich meinen Vater manchmal zum Düsseldorfer Hauptbahnhof begleiten, um englische Zeitungen zu kaufen. Er verschwand dann bei den Schließfächern, während ich im Zeitungsladen auf ihn wartete. Natürlich hoffte ich, er würde mit etwas Aufregendem zurückkommen, aber unter seinem Arm steckte immer nur die International Herald Tribüne.
Einmal nahm er mich in eine Kneipe mit, die in einer ziemlich heruntergekommenen Gegend lag. Er traf dort eine Frau im MickeyMouse-T-Shirt, die von einem jungen Mann begleitet wurde.
Beide schienen von meiner Anwesenheit nicht begeistert zu sein, und mein Vater fragte mich, ob ich nicht hinausgehen wolle, um mir die Umgebung anzusehen. Nach fünf Minuten entschied ich, dass mir die Umgebung zu unheimlich war (ich war ein Kind mit starken Sicherheitssensoren) und kam zurück. Als meine Mutter von dem Vorfall hörte, wurde sie wütend. Sie hasste den Beruf meines Vaters.
Er arbeitete seit dem Zweiten Weltkrieg als Nachrichtenoffizier für die Amerikaner. Das war für einen Emigranten seiner Generation nicht unbedingt ungewöhnlich.
Als zwanzigjähriger war er mit einem Stipendium nach Amerika gekommen. Nachdem die USA in den Krieg eingetreten waren, wurde er - wie so viele deutschsprachige Emigranten - Teil des Counter Intelligence Corps (CIC). Seine Operationen waren so erfolgreich (und vor allem einfallsreich), dass man ihn auch nach dem Krieg behalten wollte.
Aber die neugegründete CIA war eine andere Art von Organisation als der CIC.Ein unkonventioneller Nachrichtenoffizier wie mein Vater wurde in den i9^oer-Jahren suspekt. In der McCarthy-Zeit konnte jeder mit ausländischen Wurzeln und „liberalem“Gedankengut verdächtig werden. Irgendwann kam es zum Bruch mit der CIA. Trotzdem scheint mein Vater immer wieder für sie gearbeitet zu haben, denn meine Mutter entwickelte eine ohnmächtige Wut auf diese „Organisation“.
Mein Vater starb kurz nach dem Vorfall mit der Mickey- Mouse-Frau. Er hinterließ Unmengen von Schlüsseln, die nichts öffneten. Irgendwann warf meine Mutter sie weg. Ich war acht Jahre alt, und der einzige Anhaltspunkt, den ich hatte, war eine Frau im Mickey-Mouse-T-Shirt.
Sie fiel mir Jahre später wieder ein, als ich in Cambridge Geschichte studierte. Die Stadt wimmelte von Spionagegeschichten, und jeder schien jemanden zu kennen, der irgendwann einmal „beinahe“von MI6 oder MI5 rekrutiert worden war. Ein paar der Geschichten klangen glaubhaft, denn die Universität hatte auf diesem Gebiet eine lange Tradition.
In den i930er-Jahren war Cambridge der Ort gewesen, an dem sowjetische Nachrichtendienste ihre erfolgreichsten Spione rekrutiert hatten. Junge, begabte Studenten aus bestem Hause wurden hier zu Stalins Agenten.
Der berühmteste von ihnen war Kim Philby, der nach seiner Enttarnung 1963 in die Sowjetunion floh. Doch nicht nur der sowjetische, auch der britische Geheimdienst war in Cambridge immer aktiv gewesen.
Junge Cambridgestudenten wie Harry Hinsley halfen während des Zweiten Weltkrieges dem britischen Nachrichtendienst, deutsche Funksprüche zu entschlüsseln.