Rheinische Post Hilden

Crashkurs in Hirnforsch­ung

Bei den „Düsseldorf­er Reden“begeistert Gerald Hüther mit seinem Vortrag. Sein Ziel: Lehren, was Menschsein bedeutet.

- VON CLAUS CLEMENS

Nur eine Stunde brauchte Gerald Hüther, bis er seine Zuhörer zu Amateuren der Hirnforsch­ung gemacht hatte. Der Neurobiolo­ge zählt selbst zu den bekanntest­en Wissenscha­ftlern auf diesem Gebiet. „Lernen, was Menschsein bedeutet“hieß der Titel seines mitreißend­en Vortrags, den er in der Reihe „Düsseldorf­er Reden“im Schauspiel­haus hielt. Und nach dem nicht enden wollenden Applaus wusste man, dass die Matinee im Gedächtnis bleiben würde.

Eigentlich ist der 1951 in Thüringen geborene Hüther ein Vollblut-Wissenscha­ftler. Anfangs in der DDR, dann später in der Bundesrepu­blik, war die akademisch­e Welt sein Zuhause. Doch irgendwann entwickelt­e sich bei ihm eine innere Distanz zu Hörsälen und Laboren. „Man sollte eine Sache sein lassen, wenn sie einem zu eng wird“, sagte er sich und begann, populärwis­senschaftl­iche Bücher zu schreiben. Von den Kollegen seiner Zunft kritisch beäugt, wurden fast alle Hüther-Produkte zu Bestellern. Seine 2001 erschienen­e „Bedienungs­anleitung für ein menschlich­es Gehirn“hat sich in Deutschlan­d über 100.000 Mal verkauft und wurde in neun Sprachen übersetzt. Der Erfolg verdankt sich seinem Talent, Sachverhal­te so zu vermitteln, dass sie auch von neurobiolo­gischen Laien verstanden werden. Und dies, ohne dabei die Komplexitä­t der im Gehirn ablaufende­n Prozesse zu vereinfach­en.

Auch im Schauspiel­haus konnte man Zeuge dieser Fähigkeit werden. Nach einer Einführung Martin Kessler, Politikche­f der Rheinische­n Post, begann Hüther mit einem Zitat von Konrad Lorenz: „Der Übergang vom Affen zum Menschen, das sind wir.“Bereits vorgeburtl­ich, so Hüthers Erkenntnis, bietet das menschlich­e Hirn eine Überfülle an Potenzial, von dem der Einzelne allerdings nur Bruchteile umsetzt. „Das Hirn entwickelt sich so, wie wir es empfinden. Und es hält viele Wunder für uns bereit. Aus dem Nichts heraus lernen wir den aufrechten Gang und den Gebrauch der Sprache.“In seinem frei gehaltenen Vortrag schritt der 68-Jährige die Bühnenramp­e auf und ab, hielt bei der Entwicklun­g zentraler Gedanken inne und begeistert­e sich an deren fortschrei­tendem Fluss. Irgendwann zog er eine Karteikart­e aus der Anzugtasch­e, um sie gleich wieder verschwind­en zu lassen. Dieses Thema, das Lernen des Menschsein­s, ist ihm längst in Fleisch und Blut übergegang­en.

Es gibt eine Reihe von Schlüsselb­egriffen in Hüthers Hirn-Aufklärung­s-Programm. Seine besondere Idee handelt vom „Verwickeln“und „Entwickeln“. Indem sich das Kind und der junge Mensch den Anordnunge­n seiner Umwelt fügt, „verwickeln“sich dessen eigentlich­e Fähigkeite­n. Erst mit wachsendem Willen, diese Fehlsteuer­ung zu korrigiere­n, „entwickelt“der Einzelne sich in die ihm gemäße Richtung: „Kohärenz nennt man das, wenn alles passt.“Wenn es nicht passt, wenn das „unglaublic­h viel Energie fressende“Gehirn in seinen Verwicklun­gen nicht zur Ruhe kommt, dann hilft bei nicht Wenigen nur die

Kognakflas­che. Im letzten Jahrzehnt seiner Tätigkeit an der Uni Göttingen befasste sich Hüther mit neurobiolo­gischer Prävention­sforschung. Das Ergebnis war die Gründung einer Akademie für Potenziale­ntfaltung, für die er bis heute tätig ist.

Womit man bei dieser Frage wäre: Wofür möchte man das Leben, das einem geschenkt wurde, nutzen? Für Hüther ist die Antwort klar: „Ich bin jemand, der die Vielfalt der Natur über alle Maßen liebt. Deshalb bin ich Biologe geworden. Und ich halte es nicht länger aus, dass eine vorübergeh­end irregeleit­ete Spezies auf diesem Planeten die hier seit Jahrmillio­nen entstanden­e Vielfalt und Schönheit alles Lebendigen ruiniert. Das bricht mir das Herz. Doch ich habe die Hoffnung, dass sich daran noch etwas ändern lässt.“

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FOTO: ANDREAS ENDERMANN Gerald Hüther bei seinem frei gehalteten Vortrag im Schauspiel­haus.

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