Rheinische Post Hilden

The Sun Ain’t Gonna Shine Anymore

- VON PHILIPP HOLSTEIN

Scott Walker, Teenie-Idol der 60er Jahre und eine der fasziniere­ndsten Persönlich­keiten des Pop, ist tot.

LONDON Scott Walker ist tot, und das ist schlimm, denn der Pop braucht dringend Charaktere wie ihn. Der 76-Jährige war ein Außenseite­r, er gehört in die Reihe der weltabgewa­ndten Genies wie Syd Barrett und Brian Wilson, und er zeigte, wie weit man gehen kann und was alles möglich ist. Genau genommen besteht das Lebenswerk von Scott Walker darin, Konsequenz als eigene Kategorie der populären Musik überhaupt erst installier­t und gleichzeit­ig bis zum Äußersten getrieben zu haben.

Begonnen hat die Karriere des Amerikaner­s Mitte der 1960er Jahre, als er als Kopf der Walker Brothers auftrat, die indes weder Brüder waren, noch Walker hießen. Einen Sommer lang galt das Trio als Konkurrenz der Beatles; 1966 war das, als ihr größter Hit „The Sun Ain’t Gonna Shine Anymore“erschien. Scott Walker, der als Noel Scott Engel geboren wurde, gefiel das Leben als lockiges Teenie-Idol im Rollkragen-Pulli aber überhaupt nicht. Und so lösten sich die Walker Brothers rasch auf, und ihr Sänger verzog sich ins Kloster, um gregoriani­sche Choräle zu studieren.

Ende der 1960er Jahre kehrte Walker als Solo-Künstler zurück. Seine in rascher Folge erschienen­en Alben „Scott 1 – 4“gehören zu den Höhepunkte­n der Popgeschic­hte des 20. Jahrhunder­ts. Walker ließ sich inspiriere­n von der europäisch­en Tradition, von Chanson und Kabarett. Er coverte Jacques Brel, sang über den Film „Das siebente Siegel“von Ingmar Bergman, und vor allem „Scott 4“ist eine unglaublic­h tolle Platte: eleganter, symphonisc­her Erwachsene­n-Pop, der David Bowie inspiriert­e, Jarvis Cocker von Pulp niederknie­n ließ und Thom Yorke von Radiohead zum Maßstab wurde. Das Problem: Das Album fand kaum Käufer, es gilt heute zwar als Klassiker, war zu seiner Zeit aber ein Flop. Seinen wirtschaft­lichen Erfolg kommentier­te Walker selbstiron­isch: „Ich bin wie Orson Welles: Man will mit mir Mittag essen, aber niemand will den Film finanziere­n.“

In den 1970ern wurden die Walker Brothers reaktivier­t, und ihr letztes Album „Nite Flights“(1978) deutete an, wohin sich Scott Walker entwickeln würde: düstere Stücke, die über den Gesetzen des Populären schweben. Von 1983 an veröffentl­ichte er dann solo und im Zehn-Jahres-Takt die Einzelteil­e einer Trilogie über menschlich­e Abgründe, Pest und Krieg: zuerst „Climate Of Hunter“(das im Katalog der Plattenfir­ma Virgin als das am schlechtes­ten verkaufte Album gilt), dann „Tilt“und „The Drift“. Das ist schwarze, düstere, ja: opake Musik. Hieronymus Bosch und Samuel Beckett standen Pate. Da ist die Rede von Claretta Petacci, der Mussolini-Geliebten, die um ihre Hinrichtun­g bettelt. Elvis Presleys totgeboren­er Zwillingsb­ruder Jesse Garon Presley kommt zu Wort. Auch Joseph Beuys hat einen Auftritt. Esel und Enten schreien dazu, Heuschreck­en-Schwärme summen. Walker presst seinen Bariton zu einem winselnden Tenor, und zumindest „The Drift“hört man komplett wahrschein­lich nur einmal in seinem Leben. Zu mehr reicht die Kraft nicht.

Das eine Hören wird man jedoch nie vergessen. Es tut weh, aber man findet darin auch schroffe Schönheit und Inspiratio­n. Scott Walker wandelte sich zum Musik-Denker, zum Forscher des Abwegigen, zum Virtuosen des Unbedingt und Darüber-Hinaus. Seine Produktion­en vermittelt­en eine Ahnung von etwas Neuem.

40 Jahre ist er so gut wie nie aufgetrete­n, es gab wenige Fotos von ihm, er war ein öffentlich­es Phantom. Nun ist er der Welt endgültig abhandenge­kommen.

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FOTO: REDFERN US-Sänger Scott Walker Ende der 1960er Jahre.

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