Rheinische Post Hilden

Ian Kershaw ermahnt Europa bei der Lit.Cologne

- VON PHILIPP SÖLKEN

KÖLN Ein britischer Gentleman, dem der Schalk im Nacken sitzt: So trat der Historiker Ian Kershaw bei der Lit.Cologne auf. Gesprochen hat er – auf Deutsch – über sein Buch „Achterbahn“, in dem er die Geschichte Europas von 1950 bis zum November 2017 erzählt. Sein Anliegen: Zeigen, dass diese Zeit keine Einbahnstr­aße Richtung Wohlstand und Frieden war, vor allem, wenn man gen Osten blickt – der Bürgerkrie­g im ehemaligen Jugoslawie­n oder der Ukraine-Konflikt trübten den Frieden in Europa.

Bei seiner Analyse hält Kershaw keinen „Sicherheit­sabstand“zur Gegenwart, wie Moderator Jürgen Wiebicke sagte, der den Abend leitete. Für seine Analyse einen Endpunkt zu finden, fiel ihm schwer. Zusammenfa­ll der Sowjetunio­n, 11. September oder die Bankenkris­e 2008? Alles Zäsuren, doch Kershaw kommt unserer Zeit noch näher. Wie sind wir dahin gekommen, wo wir nun stehen? Das zu klären, ist laut Kershaw die Aufgabe des Historiker­s. „Da ist die Versuchung groß, bis in die Gegenwart zu gehen“, sagt er.

Das nahm Wiebicke zum Anlass auch über Tagespolit­ik zu sprechen. Ganz vorn natürlich der Brexit und seine Urheber. In seinem Buch sei Kershaw bei diesem Kapitel von seiner britischen Nüchternhe­it abgewichen: Als „Schnösel“bezeichnet er den Brexiteer Boris Johnson. „Ich versuche mich immer sehr höflich auszudrück­en“, sagt Kershaw schmunzeln­d und erheitert das Publikum im WDR-Funkhaus. Weniger zum Lachen ist Kershaws Blick in die Zukunft. Auch wenn er sich als Vergangenh­eitsforsch­er nicht auf Prognosen festlegen lässt, sieht er Europa vor Problemen: Klimawande­l, Massenmigr­ation, Populismus – in solch einem Fahrwasser sollte man besser zusammenbl­eiben.

Doch eine Idee, wie Europa wieder zu einer begeistern­den Idee werden kann, hat auch er nicht. Aus einer Sicht wird es ein Kampf Tag für Tag gegen die falschen Verheißung­en des Populismus. Dennoch bleibt Kershaw Optimist, schließlic­h kommt nach einem Tief auch wieder ein Hoch. „Ich bin für Achterbahn­fahren“, sagt er zum Abschluss und zerstreut ein wenig die Verunsiche­rung dieser Tage.

Newspapers in German

Newspapers from Germany