Ian Kershaw ermahnt Europa bei der Lit.Cologne
KÖLN Ein britischer Gentleman, dem der Schalk im Nacken sitzt: So trat der Historiker Ian Kershaw bei der Lit.Cologne auf. Gesprochen hat er – auf Deutsch – über sein Buch „Achterbahn“, in dem er die Geschichte Europas von 1950 bis zum November 2017 erzählt. Sein Anliegen: Zeigen, dass diese Zeit keine Einbahnstraße Richtung Wohlstand und Frieden war, vor allem, wenn man gen Osten blickt – der Bürgerkrieg im ehemaligen Jugoslawien oder der Ukraine-Konflikt trübten den Frieden in Europa.
Bei seiner Analyse hält Kershaw keinen „Sicherheitsabstand“zur Gegenwart, wie Moderator Jürgen Wiebicke sagte, der den Abend leitete. Für seine Analyse einen Endpunkt zu finden, fiel ihm schwer. Zusammenfall der Sowjetunion, 11. September oder die Bankenkrise 2008? Alles Zäsuren, doch Kershaw kommt unserer Zeit noch näher. Wie sind wir dahin gekommen, wo wir nun stehen? Das zu klären, ist laut Kershaw die Aufgabe des Historikers. „Da ist die Versuchung groß, bis in die Gegenwart zu gehen“, sagt er.
Das nahm Wiebicke zum Anlass auch über Tagespolitik zu sprechen. Ganz vorn natürlich der Brexit und seine Urheber. In seinem Buch sei Kershaw bei diesem Kapitel von seiner britischen Nüchternheit abgewichen: Als „Schnösel“bezeichnet er den Brexiteer Boris Johnson. „Ich versuche mich immer sehr höflich auszudrücken“, sagt Kershaw schmunzelnd und erheitert das Publikum im WDR-Funkhaus. Weniger zum Lachen ist Kershaws Blick in die Zukunft. Auch wenn er sich als Vergangenheitsforscher nicht auf Prognosen festlegen lässt, sieht er Europa vor Problemen: Klimawandel, Massenmigration, Populismus – in solch einem Fahrwasser sollte man besser zusammenbleiben.
Doch eine Idee, wie Europa wieder zu einer begeisternden Idee werden kann, hat auch er nicht. Aus einer Sicht wird es ein Kampf Tag für Tag gegen die falschen Verheißungen des Populismus. Dennoch bleibt Kershaw Optimist, schließlich kommt nach einem Tief auch wieder ein Hoch. „Ich bin für Achterbahnfahren“, sagt er zum Abschluss und zerstreut ein wenig die Verunsicherung dieser Tage.