Das Publikum soll’s richten
Die preisgekrönte Gruppe She She Pop kommt zum Gastspiel ins FFT.
Der Vorhang geht auf, Schauspieler betreten die Bühne, langsam entspinnt sich eine Geschichte – so funktioniert Theater für gewöhnlich. Völlig anders ist „Oratorium“, ein Stück des Theaterkollektivs She She Pop. Mit „Wir sind der Protagonist“stellen sich die zehn Schauspieler dem Publikum vor. Dieses antwortet im Chor: „Schön, dass Du da bist. Was willst Du?“Der Antwort wird als Obertitel projiziert. So wird der Zuschauer zum Mitspieler. Die Idee dazu hat das Performance-Kollektiv Bertolt Brechts Lehrstücktheorie entnommen. Zu Beginn der 1930er Jahre entwickelte Brecht die Idee, dass sich das Publikum durch aktive Beteiligung mit Problemen der Zeit auseinandersetzt. „Durch das Aussprechen der Sätze und das Einnehmen bestimmter Haltungen sollte das Publikum besser verstehen, als wenn es nur zuschaut“, sagt Lisa Lucassen von She She Pop.
Mit der Wohnungsknappheit, steigenden Mieten und problematischen Eigentumsverhältnissen nimmt sich das Berliner Theaterkollektiv einer aktuellen Problematik an, die Brecht heutzutage sicherlich auch beschäftigen würde. Wie in allen ihren Arbeiten sind der biografische Hintergrund und die persönlichen Erfahrungen der She-ShePop-Mitglieder der Ankerpunkt des Stückes. Ganz bewusst lassen sie auch in „Oratorium“ihre familiären Besitzverhältnisse ins Geschehen einfließen. . Und der zu Beginn noch mit einer Stimme sprechende Publikumschor wird in „Erbinnen und Erben“oder „Chor der Mütter ohne Absicherung“eingeteilt. So entspinnt sich ein höchst kurzweiliger Theaterabend übers Erben, Besitzen und Wohnen mit einem aktiven Publikumschor. „Die Zuschauer machen immer mit, weil die Schwelle sehr niedrig ist und es Spaß macht“, sagt Lucassen.
Seit 25 Jahren tourt sie mit sieben Kollegen als She She Pop über deutsche und internationale Theaterbühnen. Vor einem Vierteljahrhundert als Außenseiter in der Theaterlandschaft angefangen, sind She She Pop im Jahr 2019 im Theaterkanon angekommen. Mit „Oratorium“ist das Kollektiv zum zweiten Mal zum renommierten Berliner Theatertreffen eingeladen. Außerdem erhalten sie dort den Theaterpreis Berlin der Stiftung Preussische Seehandlung und stoßen damit zu einer illustren Runde. Vor ihnen erhielten bereits Theatermacher wie Heiner Müller, Botho Strauß, Claus Peymann, Bruno Ganz und Elfriede Jelinek den mit 20.00 Euro dotierten Preis. In ihren Produktionen bleiben She She Pop der freien Szene treu. In Düsseldorf werden sie wie schon seit 20 Jahren im FFT auftreten. „Nur wenn wir bei einem Stück eine größere Bühne brauchen, wechseln wir ins Tanzhaus, aber das FFT ist hier schon immer unser Partner“, sagt Lucassen.
Kennengelernt haben sich die Mitglieder der Gruppe während des Studiums am Institut für Angewandte Theaterwissenschaften in Gießen. Dort wurde in den 80er und 90er Jahren eine Generation von Theatermachern ausgebildet, die das klassische Bühnenspiel auf den Kopf stellte. Unter Leitung des kürzlich gestorbenen Theaterwissenschaftlers Andrzej Wirth lernte auch Lucassen eine neue Art des Theatermachens. Zu weiteren Schülern Wirths zählen der Regisseur René Pollesch, die Mitglieder von Rimini Protokoll oder der Dramatiker Moritz Rinke.
„Es war ein tolles Studium. Wir wurden von Wirth zum Teil mit völlig krudem Quatsch beschmissen, aber daraus hat sich trotzdem etwas entwickelt, denn wir waren sehr frei in dem, was wir taten“, erinnert sich Lisa Lucassen. Dank der Freundschaft zu ihren Mitstreitern zeichnen sich auch nach 25 Jahren noch keine Abnutzungserscheinungen bei She She Pop ab. „Wir gehen sehr sorgsam miteinander um, auch wenn es manchmal kracht“, sagt Lucassen.
Info „Oratorium“wird am 28., 29. und 30. März jeweils ab 20 Uhr im FFT, Kasernenstraße 6, gezeigt. Restkarten gibt es eventuell an der Abendkasse.