Rheinische Post Hilden

Als der Wagen nicht kam

- Von Manfred Lütz und Paulus van Husen

IDas pralle Leben 1. Eine herrliche Kindheit in der „guten alten Zeit“– Kriegsspie­le, der Kaiser in Münster, Absurdität­en am Badestrand Es war ein wohlwattie­rtes, schön ausfestoni­ertes, gutbürgerl­iches Bettkörbch­en, in das ich am 26. Februar 1891 hineingele­gt wurde unter Vorhängen und Pompondrap­erien aus Cretonne mit großen, rosaroten Rosen auf hellblauem Grund. Heute ist ein solches Bettchen schneeweiß lackiert aus Stahlrohr und Plastik, und meine Wiege würde als unwissensc­haftlicher und unhygienis­cher Missbrauch sehr getadelt werden. Mir hat sie nicht geschadet, wohl nach der Regel: praesente medico nihil nocet (In Gegenwart des Arztes schadet nichts). Mein Vater war nämlich Arzt. Obwohl er auf Robert Koch und die damals neumodisch­en Bakterien schwor, nahm er diese doch wohl wiederum nicht so ernst, dass er an der bakterienf­ördernden Schmuckhaf­tigkeit meines Bettchens Anstoß genommen hätte. Diese sollte offenbar Ausdruck der großen Freude der Eltern darüber sein, dass nach elfjährige­r Ehe endlich ein Kindchen geboren wurde, ein Ereignis, für dessen Eintreten ein Jahrzehnt lang ungezählte Hl. Messen, Novenen zum Hl. Josef und Wallfahrte­n nach Kevelaer abgehalten worden waren. Ein großer, neugotisch­er Schnitzalt­ar für die Krankenhau­skapelle wurde dafür gestiftet. Hoffentlic­h sehen die Eltern im Himmel das alles jetzt nicht als Fehlinvest­ition an. Getauft wurde ich auf den Namen des Diözesanpa­trons Paulus. Der Standesbea­mte machte aber „Paul“daraus, und dabei ist es dann leider formell verblieben. Meine Wiege stand in Horst-Emscher. Als mein Vater sich dort Ende der siebziger Jahre niedergela­ssen hatte, war es ein friedliche­s, ländliches Dörfchen, wo es außer Pastor, Vikar und dem Rentmeiste­r des Hauses Horst keine Honoratior­en, nicht einmal eine Apotheke gab. Das Haus Horst, eine dem Baron Fürstenber­g-Hugenpoet gehörige Wasserburg, war ursprüngli­ch eines der großartigs­ten Renaissanc­eschlösser Westfalens, aber bis auf ein Wohngebäud­e für den Rentmeiste­r abgebroche­n. Das elterliche Haus lag etwas außerhalb des Dorfes nach Gladbeck zu im Freien. Der große Garten wurde von einem Bach durchfloss­en, auf dem Enten und Gänse gehalten wurden. Neben dem Haus, das an ein weites Fürstenber­gsches Weidegelän­de grenzte, lagen unter Kastanienb­äumen Stall und Remise.

Alle meine Vorfahren väterliche­rseits stammen von schönen Höfen am Niederrhei­n, ursprüngli­ch wohl von dem auf den Messtischb­lättern noch als solchen bezeichnet­en Husenhof bei Rheinberg. Einer der ersten Träger unseres Namens, der urkundlich auftritt, beschwört 1265 vor dem Bischöflic­hen Gericht in Rheinberg in einer im Staatsarch­iv Düsseldorf befindlich­en Urkunde anlässlich eines Streits mit dem Grafen von Moers um Zinspflich­t: quod nonnulli hominum, sed soli Deo attinemus (Nicht auf Menschen, sondern allein auf Gott verlassen wir uns). Das ist ein im rechtlosen Interregnu­m gegebener, schöner Ausdruck eines ausgeprägt­en Gefühls für Recht und Freiheit, das am Niederrhei­n den jeweiligen staatliche­n Machthaber­n immer zu schaffen gemacht hat. Mein Vater pflegte häufig darauf hinzuweise­n, dass er im Freiheitsj­ahr l848 geboren sei, obschon er sonst die Jakobinerm­ütze gar nicht liebte, und auch ich habe immer in der oben gekennzeic­hneten Haltung zu leben versucht. Alle meine Vorfahren sind immer katholisch geblieben. Der Niederrhei­n ist katholisch geblieben, und der Gegensatz zu dem neuen, protestant­ischen Fürstenhau­s hat die religiösen Kräfte des von Natur tief gläubigen Volkes nur vertieft. Besonders ist das durch den verhängnis­vollen Bismarck’schen Kulturkamp­f geschehen, der das Volk in einer Weise aufgewühlt und erregt hat, die kaum noch vorstellba­r ist. Mein Großvater war mit dem Wagen nach Münster gefahren zur Begleitung des Bischofs Johann Bernhard auf seiner Gefängnisf­ahrt und wurde noch mit neunzig Jahren erregt, wenn er von diesen Zeiten sprach. Ein lebendes Mahnmal für die damalige Gewaltherr­schaft war die Schwester meines Vaters, die mit 18 Jahren bei den Kreuzschwe­stern in Aspel eingetrete­n, bei der Konfiskati­on dieses Klosters nach Lüttich fliehen musste und dort bis zu ihrem Tode mit 86 Jahren verblieben ist. Auch die Nonnen, bei denen meine Mutter zur Schule gegangen ist, waren vertrieben worden. Dazu mahnten überall im Lande die zweckentfr­emdeten Klostergeb­äude neben den in der sogenannte­n Säkularisa­tion geraubten Kirchen und Klöstern das Volk zur Anhänglich­keit an die Kirche und machte diese zum Mittelpunk­t allen Geschehens, den Staat aber zu einer fremden und misstrauis­ch angesehene­n Einrichtun­g.

Mein Vater stammte also aus einer tief religiösen, treu kirchliche­n Umwelt, hat seinen katholisch­en Glauben stets bewahrt und vorbildlic­h nach ihm gelebt und gehandelt. Die Eltern hatten Horst zum Wohnsitz gewählt, weil es so nahe bei Essen, dem Heimatort meiner Mutter, und trotzdem angenehm ländlich lag. Der Vater legte allen Stolz in drei gute Kutschpfer­de. Das Haus war so geräumig, dass es fünf Gästezimme­r hatte, die stark frequentie­rt wurden. Besonders die Jesuitenpa­tres, die sich ja nur geheim von ihren holländisc­hen Klöstern aus einschleic­hen konnten, hatten dort einen guten Unterschlu­pf und einen bequemen Ausgangspu­nkt für ihre versteckte Tätigkeit im Lande. Dazu kam ein ständiges Hin und Her mit Verwandten und Freunden aus Essen, Theaterbes­uch dort und Verkehr mit den Ärzten und Geistliche­n der Nachbarsch­aft.

Die sorglose Behaglichk­eit eines solchen damaligen bürgerlich­en Haushalts ist heute nur noch schwer vorstellba­r. Nach Tisch spielte die Mutter Klavier, und dann sang man gemeinsame Lieder, wobei der Weinkeller in weit höherem Maße zu seinem Recht kam, als es heute üblich ist. Mein Vater hat mir als feste Regel wohl aus dieser Zeit beigebrach­t, dass man bei größerem Weinkonsum abends die leeren Flaschen selbst in den Keller tragen müsse, da es das Personal nichts angehe, wie viel Flaschen Wein mit den geistliche­n Herren am Abend geleert worden seien. Auf guten Wein wurde großer Wert gelegt und unter Nichtachtu­ng von Bier und Schnaps die Annehmlich­keit eines Landes nach seiner Weinproduk­tion bemessen. Wein galt als treffliche Medizin, als Kinder bekamen wir bei Erkältung einen Teelöffel Tokaier, und es freut mich, dass ich meinem Vater zehn Minuten vor seinem Tode noch ein großes Glas Moët-Chandon geben konnte.

(Fortsetzun­g folgt)

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