Als der Wagen nicht kam
Die Russen sind für uns unverständlich, schlimmer im Quälen als die Gestapo, weil sie es sinnlos tun, während die Gestapoleute nur unmenschlich wurden, wenn sie etwas erpressen wollten. Ich stand also infolge der Barmherzigkeit des Juden bald auf der Straße, bereichert um die Erkenntnis, was von den Russen und der GPU zu halten war.
Es war die Christstraße, und sie führte auf den Friedrich-KarlPlatz, wo als Lichtblick das Kamillianerkloster auftauchte, zu dem ich von Oberschlesien her gute Beziehungen hatte. Der Präfekt Pater Särnen erklärte jedoch, die Russen hätten den Klöstern verboten, Zivilpersonen aufzunehmen, und er könne das Kloster nebst Altersheim nicht gefährden. Man half mir wenigstens, wieder eine Schlinge um den Arm zu legen, und ich zog los in Richtung Herz-Jesu-Pfarrei wegen Pater Schluski. Die Front blockierte den Weg dorthin, und ich schwenkte um in Richtung auf das Frauenbundhaus am Lietzensee. Ich kam auch glatt über den Kaiserdamm. Plötzlich sah ich am Lietzensee deutsche Soldaten. Also fluchtartig kehrt und zurück, was auch ohne Beschuss gelang. Ich war in den menschenleeren Straßen durch eine russische Frontlücke gelaufen. Den Sprung nach vorwärts hatte ich nicht gewagt, weil es immer riskant ist, gegen kämpfende vorderste Fronten anzulaufen, und weil ich nicht wissen konnte, ob ich nicht dort der SS in die Hände lief. Immer noch besser bei den Russen. So weit hatte Hitler es gebracht (der ja inzwischen schon tot und verbrannt war). Nun versuchte ich in etwa einem Dutzend von Häusern vergeblich, für die Nacht in den Luftschutzkeller aufgenommen zu
werden. Allgemeine Weigerung aus Angst, ich sei ein geflüchteter Soldat. Die Bürger in Charlottenburg waren nicht so barmherzig wie die Kommunisten im Wedding. Nirgends ein Arzt zu finden, um den immer heftiger schmerzenden Arm zu schienen. Ich wusste nicht mehr ein und aus, weil die Nacht anbrach und Zivilisten dann nicht mehr auf der Straße sein durften. Also zurück zum Kamillianerkloster, wo ich jetzt moraltheologisch deutlich werden wollte. Gerade war die Abendmesse beendet, und der vor der Kirchtür stehende Präfekt fand aus den Kirchgängern einen Arbeiter, Herrn Korte, der mich bereitwilligst mit in seine Wohnung nahm und mir sogar Essen gab. Kaum waren wir dort, als eine deutsche Granate in das darüberliegende Stockwerk schlug. Ich war aber zu elend, um davon berührt zu werden.
Am 2. Mai 1945 gegen 10 Uhr Abmarsch in Richtung LietzenseeGrunewald. Das Schießen hatte aufgehört. Es war Waffenstillstand geschlossen. So endete die tausendjährige Mordtragödie, und das schlimme Nachspiel begann. Nach 130 Jahren stand erstmals wieder ein Feind in Berlin, ein böser Feind, obschon er seit dreiviertel Jahren als Retter herbeigesehnt war. Am Kaiserdamm, wo ich gestern Abend durchgeschlüpft war, lagen einige russische Tote. Ebenso gut hätte ich dazwischen sein können, wenn ich weitergegangen wäre. Einige Russen hielten mich an: „Uhr“. Die gewohnte Antwort nützte nicht, und sie durchsuchten meine Taschen. Als der Rosenkranz zutage kam, sagte ich: „festem katolicki“. Antwort: „katolicki karrosch“, und ich konnte ungehindert weitergehen. Im Frauenbundhaus war ein Reservelazarett, wo ein Stabsarzt Dr. Pannick mir zwischen seinen großen Operationen sehr hilfsbereit den Arm provisorisch schiente. Währenddessen durchsuchten die deutschen Sanitäter die Verwundeten nach Waffen, da die Russen bei Waffenfund im Lazarett das Anzünden des Hauses angedroht hatten. Es wurden mehrere Revolver gefunden, die die Narren im Bett versteckt hatten. Dann kam eine russische Patrouille, durchsuchte alles und zog dem Stabsarzt am Operationstisch die Stiefel aus, der dann in Pantoffeln gleichmütig weiteroperierte.
Auf dem Weitermarsch sperrte beim Bahnhof Witzleben eine hohe Barrikade die S-Bahnbrücke. Weit und breit kein andrer Übergang. Mit dem gebrochenen Arm erschien es als ein unüberwindliches Hindernis. Ich bat mehrere Leute, mir zu helfen. Kalte Ablehnung! Zuletzt kam ein verwundeter Soldat, und unter gegenseitiger Hilfe kamen wir mit Mühen und Schmerzen schließlich hinüber. Dann weiter die Avus entlang. Hie und da Leichen und Gräber. Furchtbar allenthalben die Zerstörungen. Am 20. Juli 1944 hatte Deutschland noch anders ausgesehen. Voll Unbehagen vor den umherstreunenden Russen kroch ich durch den dunkeln, vermauerten Tunnel am Bahnhof Grunewald. Auf der Königsallee – der Hagenplatz schien nach den Gräbern Kampffeld gewesen zu sein – verharrte ich einen Augenblick. Dann wagte ich den Blick um die Ecke. Das Haus stand noch. Vor dem Haus ein Tank, alles voll von Bagagen und Soldaten. Niemand beachtete mich, als ich hineinging. In der Diele Russen und entsprechender Schmutz. Fußhoch lag Wäsche und anderes ineinandergetrampeltes Plündergut. Ob Ite wohl noch da war? Ich hörte Frauenstimmen und schon lag Ite mir in den Armen, ausgezehrt und durchsichtig, aber sie stand da in der Glorie ihres sieghaften Starkmuts.
Das Unternehmen Kreisau-20. Juli war nach Angst und Leid und so viel bitterem Tod beendet. Es ist die hohe Zeit meines Lebens gewesen.
Für mich machten wir im Zimmer meiner Schwester ein Lager auf dem Boden zurecht. Die Russen hatten sich betrunken, lärmten im Haus umher und suchten nach den Frauen. Ich hatte die Zimmertür verschlossen, und als ich merkte, dass sie diese eintreten wollten, verbarg ich meine Schwester und die von ihr aufgenommene Frau schnell in dem großen, mit einer unsichtbaren Tapetentür verschlossenen Wandschrank, wo sie sich auf den dort aufgehäuften Kleidern meiner Schwester hinhockten. Als ich die Zimmertür dann öffnete, waren die Russen höchst erstaunt, nur den Schlosser und mich zu sehen. Sie schauten sogar unter das Bett und gaben sich dann zufrieden, blieben aber samt den mitgebrachten Schnapsflaschen im Zimmer. Um sie bei Laune zu halten, musste ich trotz Übermüdung und der Schmerzen am Arm mit ihnen trinken. Immer wieder brachte ich mit meinen wenigen polnischen Brocken eine lärmende Unterhaltung in Gang und veranlasste sie zum Singen, stets voll Angst, dass sie ein Geräusch aus dem Wandschrank hören würden. Schließlich gelang es mir, sie loszuwerden und die Tür wieder zu verschließen, so dass die beiden halberstickt aus dem Wandschrank kommen konnten. Aber noch zweimal drangen sie erneut in das Zimmer, nachdem ich die beiden gerade noch wieder versteckt hatte.
(Fortsetzung folgt)