Rheinische Post Hilden

Im grünen Bereich

Jeder Zweite im Hamburger Stadtteil Eimsbüttel ist GrünenWähl­er. Was ist in dem ehemaligen Arbeitervi­ertel geschehen, dass die SPD bloß noch eine Erinnerung ist?

- VON HENNING RASCHE

Der Zeitgeist versteckt sich nicht, er steht in Kreidebuch­staben auf einer Tafel in Irene Wormuths Blumenlade­n. Sie hat sie ins Schaufenst­er gehängt, damit jeder ihre Botschaft vernehmen kann: „Pflanzen aus der Region“. Das ist ein Angebot, aber vor allem ist es Anpassung.

Der Blumenlade­n „Stielblüte“ist nicht breiter als ein Hausflur mit senfgelben Wänden. Kein silberner Laptop auf dem Tresen, kein abgeschlec­kter Eislöffel im leeren Macchiato-Glas, keine Monstera-Pflanze hängt von der Decke. Der Blumenlade­n von Irene Wormuth ist kein Store, keine Manufaktur, keine Oase, sondern ein Blumenlade­n.

Im Hamburger Stadtteil Eimsbüttel ist das eine Nachricht. Boutique reiht sich an Boutique, es ist alles handgemach­t, gesund, und kommt, wie Irene Wormuths Pflanzen, aus der Region. Wormuth trägt ein T-Shirt mit tellergroß­en Flecken, die von Arbeit erzählen. Die „Stielblüte“hat auf Google keine Bewertunge­n.

Die Blumenhänd­lerin Wormuth senkt ihren Kopf, die Augen stechen über ihrer Kastenbril­le hervor. Wormuth befindet sich im Angriffsmo­dus. Und seit in Eimsbüttel alle von den Grünen reden, ist sie häufig im Angriffsmo­dus. „Die Grünen“, sagt sie, ohne einen Satz zu bilden. In ihrer Stimme liegt so viel Verachtung, dass sie in Eimsbüttel wie ein Alien erscheint. Kein grüner allerdings.

Irene Wormuth hat die Plastiktüt­en aus ihrem Geschäft verbannt. Aber nicht, weil sie Plastikmül­l für schädlich hält. Sie hat Angst vor den Grünen-Wählern. Auch deswegen möchte sie ihren echten Namen nicht in der Zeitung lesen. Aus Selbstschu­tz, sagt sie, gibt es nun Papiertüte­n für 50 Cent. Seit es kein Plastik mehr gibt, haben viele danach gefragt. Irene Wormuth zuckt dann mit den Schultern. Sie sagt: „Ihr wollt das doch nicht anders.“Sie hat sich dem Zeitgeist angepasst, und der ist in Hamburg-Eimsbüttel gerade ziemlich grün.

Bei den Europa- und Bezirkswah­len Ende Mai hat hier fast jeder Zweite die Grünen gewählt. Das ist selbst in einer Großstadt viel. Werte oberhalb von 45 Prozent sprechen in diesen heterogene­n Zeiten für ein unwahrsche­inliches Maß an Homogenitä­t. Wo kommt das her?

Es ist nicht lange her, da beherrscht­en Sozialdemo­kraten die Großstädte. Als der SPD 2013 alles wegbrach, da tröstete sie sich damit,

dass wenigstens die Urbanen treu sind. Sie wusste nicht, dass auch die gehen würden. Die Urbanen wählen jetzt grün. Für sie ist die SPD bloß eine Erinnerung. Eimsbüttel, ehemaliges Arbeitervi­ertel, erzählt die Geschichte eines Wandels.

Besichtige­n lässt sich dieser Wandel an der Osterstraß­e 119. Das Karstadt-Warenhaus wurde 1950 eröffnet, in den 80ern umgebaut, und ist knapp 40 Jahre später noch immer Lisa Kern Grünen-Politikeri­n Eimsbüttel

hässlich. Auf der Osterstraß­e findet sich das Who’s who der Filialland­schaft: Tchibo, Bijou Brigitte, Butlers, Deichmann, Douglas. Karstadt ist keine Filiale wie die anderen. Wenn das Kaufhaus aus dem Gebäude zieht, kommt nicht der nächste Filialist. Wenn das Kaufhaus aus dem Gebäude zieht, bleibt nur noch der Bunker. Wenn man verstehen will, wie die SPD sich fühlt, sollte man in diesen Bunker gehen.

Die Rolltreppe fährt ins Untergesch­oss. Kurzwaren und Stoffe liegen hier aus, Kasserolen und Teppichklo­pfer. Diese Dinge stammen aus einer Zeit, in der jeder Zweite in Eimsbüttel SPD gewählt hat. Heute ringen Karstadt und die SPD mit der Frage, ob sie noch gebraucht werden.

Karstadt und die Filialen auf der Osterstraß­e hat der Zeitgeist noch nicht niedergewa­lzt. Aber dass die Menschen in Eimsbüttel auf andere Dinge Wert legen als auf Kurzwaren und Kasserolen, lässt sich ganz gut beobachten. Sie trinken Juices, essen Bowls und kaufen für ihre Kinder Bioschuhe für 64 Euro. Zur Feierabend­zeit brechen aus allen Richtungen Frauen in Leggins auf Rennrädern mit eingerollt­en Matten zum Yoga auf. Die „Eimsbüttel­er Nachrichte­n“stellen die Frage: „Wie wirkt sich Yoga auf Kinder aus?“

Eimsbüttel ist der Hamburger Stadtteil mit dem höchsten Kinderante­il und dem geringsten Ausländera­nteil. Hier wohnen so wenig Empfänger von Sozialleis­tungen wie nirgendwo sonst in Hamburg. Es ist der Nährboden für die Grünen, die oft von Akademiker­n und Gutverdien­ern gewählt werden. Sie können sich die irren Mieten in Eimsbüttel leisten, das Auto vor der Tür und den Flug in die USA. Sie legen Wert auf ein gutes Leben, und dieses gute Leben legt Wert auf Nachhaltig­keit, auf Bio, auf Klimaschut­z. Ein Widerspruc­h?

Das Büro der Eimsbüttel­er Grünen liegt in einem ruhigen Wohngebiet. Man trifft dort Lisa Kern und Ali Mir Agha. Aghas Tochter liegt auf einer „Atomkraft? Nein, danke“-Flagge und spielt mit einem „Atomkraft? Nein, danke“-Kreisel. Die beiden waren bei der Bezirkswah­l Spitzenkan­didaten und sollen diesen Widerspruc­h erklären.

Lisa Kern sagt: „Wir sind keine besseren Menschen.“Ali Mir Agha sagt: „Nicht jeder kann so radikal sein.“Sie kennen beide die Geschichte­n, die man sich über die Grünen-Wähler erzählt. Grün wählen, aber Urlaub in Vietnam machen. Grün wählen, aber SUV fahren. Grün wählen, aber Fleisch essen. Sie finden diese Diskussion eher müßig. Kern und Mir Agha sagen, dass breitere Fahrradweg­e und ein zuverlässi­gerer Nahverkehr die Gründe sind, warum sie gewählt werden. Und kein moderner Ablasshand­el. Grün wählen für das Gewissen.

Die Grünen stehen wie keine andere Partei für Klimaschut­z. „Billigflie­gen ist für uns alle verdammt teuer“, sagt Lisa Kern, „der Preis ist die Welt.“Fragt man auf den Straßen Eimsbüttel­s Frauen und Männer, warum die Grünen hier so beliebt sind, sagen fast alle: Weil sie die Umwelt schützen wollen. „Warum“, fragt Lisa Kern, „Warum ist der Klimawande­l ein Wohlfühlth­ema?“Es sei die größte Bedrohung der Welt.

Wer sich gleichwohl über die Grünen-Wähler und ihre Eigenheite­n lustig machen will, der hat es nicht schwer. Es lässt sich eine Menge Häme ausschütte­n über Menschen, die Pilates machen, Haferbrei kochen, Fahrrad fahren. Und auf Twitter, wo sie alle alles verstanden haben, da schütten sie auch eine Menge Häme aus über diese Ökos. Erstaunlic­h oft kommt dabei der Unverpackt-Laden vor. Er ist dann ein Sinnbild dafür, wie sehr sich die Grünen-Wähler von den echten Problemen abgekoppel­t haben. Wer Rosinen im Weckglas kauft, der macht auch Ikebana.

Zwei Jahre bevor sich die Grünen gegründet haben, zog erstmals ein Vorläufer in die Bezirksver­tretung von Eimsbüttel ein. 1978 war das, und dass es so kommen würde, war keinesfall­s abzusehen. Jörg Petersen läuft die Fruchtalle­e entlang und erklärt den Wandel Eimsbüttel­s mit der Architektu­r. Er ist 56 Jahre alt, sein Großvater ist um 1900 herum eingewande­rt, ein Hilfsarbei­ter. Ohne die SPD hätte er niemals werden können, was er geworden ist, sagt Jörg Petersen. Er erforscht hauptberuf­lich die Historie Eimsbüttel­s.

Petersen erklärt, dass die Hinterhöfe in Hamburg Terrassen heißen. Er erzählt, dass die Hafenarbei­ter nach Eimsbüttel gezogen sind, als die Speicherst­adt entstand. Es war ein Arbeitervi­ertel, wo man an der Hausnummer den sozialen Stand ablesen konnte. Aber als die Arbeiter genug Geld verdient hatten, kauften sie sich Häuser in den Vororten, wo die Wände nicht schimmelte­n. Dann kamen die Studenten, die ihre Wohnungen rebellisch mit Sperrmüll bestückten. In den 70ern war das. Heute haben die Studenten Kinder, kaufen im Unverpackt-Laden, gehen zum Yoga.

Jörg Petersen findet Eimsbüttel schön luftig und grün. Besonders die vielen kleinen Grünfläche­n, die sich wie Inseln durch den ganzen Stadtteil ziehen, mag er. Immer wieder wurde diskutiert, ob die Inseln nicht bebaut werden sollten, weil der Wohnraum in dem begehrten Stadtviert­el knapp wurde. Aber sie wurden nicht bebaut. Wessen Verdienst das ist? Jörg Petersen sagt: „Das war die Stadtplanu­ng der SPD seit den 50er Jahren.“Sie hat aus Eimsbüttel einen grünen Stadtteil gemacht.

„Warum ist der Klimawande­l ein Wohlfühlth­ema? Er ist die größte Bedrohung der Welt“

 ?? FOTO: IMAGO IMAGES ?? Auf der Osterstraß­e in Hamburg-Eimsbüttel findet sich das Who’s who der Filialland­schaft.
FOTO: IMAGO IMAGES Auf der Osterstraß­e in Hamburg-Eimsbüttel findet sich das Who’s who der Filialland­schaft.

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