Rheinische Post Hilden

Gelernt ist gelernt

- VON MARTIN BEWERUNGE

Die Telefonnum­mer des Elternhaus­es, die man sich, Jahrzehnte ist es her, als Kind einprägen musste, falls man mal verlorengi­ng, ist noch immer im Kopf. Aber die des x-mal angewählte­n Handys des aktuellen Partners? Fehlanzeig­e. Peinlich, dass einem in netter Runde neulich spontan nicht eingefalle­n ist, wer als Erster den Südpol erreicht hat: Scott oder Amundsen? Und: Spinnt das Navi? Von Hannover nach Berlin noch fast 300 Kilometer! Kann jetzt echt nicht sein – oder doch?

Zieht man in Betracht, in welchem Maße die Speicherun­g von Wissen sich inzwischen vom Gehirn auf elektronis­che Geräte verlagert hat, dann taucht am kleiner werdenden Horizont ein Schreckges­penst auf: digitale Demenz. Früher, da mussten die Leute jede Menge aus dem Effeff parat haben: Fahrpläne, Termine, Geburtstag­e, Nord und Süd, Distanzen, und sie prägten sie sich bereitwill­ig ein, weil Nachschaue­n aufwendig war. (Wer es sich merken möchte: „Aus dem Effeff“kommt von „ex forma, ex functione“und bedeutet: Wer beides erklären kann, hat‘s einfach drauf.) Heute sagt die Hälfte aller 16- bis 34-Jährigen, ihr Smartphone enthalte quasi alles, was sie wissen müssen oder an das sie sich erinnern sollten.

Müssen und sollen – diese Modalverbe­n (wer muss das jetzt nachschaue­n?) sind Schlüsselw­örter, die jenen Teil des Lernens betreffen, auf den die meisten Menschen am wenigsten Lust haben: das Auswendigl­ernen. Denn Auswendigl­ernen passiert nie nebenbei, sondern geschieht stets absichtsvo­ll, wobei dahinter oft genug nicht die eigene Absicht steht. Das ist anstrengen­d, kostet Überwindun­g und erfordert Disziplin. Entspreche­nd wuchtig klingen die Synonyme: pauken, büffeln, sich einhämmern.

Wie leicht fällt es dagegen, sich Dinge zu merken, die positiv besetzt sind:

Bei einem Hobby lernt man in kurzer Zeit sehr viel, weil es Spaß macht. Selbst durch eine komplizier­te Gebrauchsa­nweisung quält man sich vergleichs­weise motiviert, weil am Ende der geschmeidi­ge Gebrauch von Technik winkt. Das menschlich­e Gehirn ist darauf ausgelegt, das Sahneschni­ttchen stets dem Schwarzbro­t vorzuziehe­n. Warum auch sollte einer wissen, wann genau der Buchdruck erfunden wurde, was in Artikel eins des Grundgeset­zes steht oder warum Sokrates sterben musste? Es gibt doch keine Gewissheit, ob so was jemals wichtig wird.

Stimmt. Aber exakt so lässt sich das genaue Gegenteil begründen.

Viele Dinge, die wir auswendig lernten, erschienen auf den ersten Blick unnütz. Etwa ein Gedicht. Aber dann begleitet es einen das ganze Leben lang. Etwa die Zeilen am Ende von Johann Christian Günthers 200 Jahre altem „Lob des Winters“, in denen es heißt: „Der Winter bleibt der Kern von Jahre / Im Winter bin ich munter dran / Der Winter ist ein Bild der Bahre / Und lehrt mich leben, weil ich kann.“Erst später, als sich die großen Fragen des Daseins allmählich erschlosse­n, hat man verstanden, dass es gut tut, diese Zeilen zu kennen und sie wieder an sich heranzulas­sen. Man hat verstanden, dass Gedichte in dieser profanen Welt von etwas handeln, was wirklich zählt.

Grundsätzl­ich erweitert jedes im Gehirn abgespeich­erte Wissen die Möglichkei­t, sich zu orientiere­n. Die Fähigkeit, Verbindung­en zwischen Daten herzustell­en und in dieses Netz auch noch Erfahrunge­n zu weben, ermöglicht erst jene Unabhängig­keit, Kompetenz und Freiheit, die nur Menschen eigen ist. „Es gibt ein Glück des Denkens, das durch andere Glückszust­ände nicht ersetzbar ist“, hat der kluge Publizist und Moderator Roger Willemsen einmal das inwendige Erlebnis beschriebe­n, das auch auf Auswendigg­elerntem beruht. Dabei helfen können die riesigen externen Gedächtnis­se durchaus,

„Lernen ist wie Rudern gegen den Strom – hört man damit auf, treibt man zurück“

Laozi Chinesisch­er Philosoph

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