Gelernt ist gelernt
Die Telefonnummer des Elternhauses, die man sich, Jahrzehnte ist es her, als Kind einprägen musste, falls man mal verlorenging, ist noch immer im Kopf. Aber die des x-mal angewählten Handys des aktuellen Partners? Fehlanzeige. Peinlich, dass einem in netter Runde neulich spontan nicht eingefallen ist, wer als Erster den Südpol erreicht hat: Scott oder Amundsen? Und: Spinnt das Navi? Von Hannover nach Berlin noch fast 300 Kilometer! Kann jetzt echt nicht sein – oder doch?
Zieht man in Betracht, in welchem Maße die Speicherung von Wissen sich inzwischen vom Gehirn auf elektronische Geräte verlagert hat, dann taucht am kleiner werdenden Horizont ein Schreckgespenst auf: digitale Demenz. Früher, da mussten die Leute jede Menge aus dem Effeff parat haben: Fahrpläne, Termine, Geburtstage, Nord und Süd, Distanzen, und sie prägten sie sich bereitwillig ein, weil Nachschauen aufwendig war. (Wer es sich merken möchte: „Aus dem Effeff“kommt von „ex forma, ex functione“und bedeutet: Wer beides erklären kann, hat‘s einfach drauf.) Heute sagt die Hälfte aller 16- bis 34-Jährigen, ihr Smartphone enthalte quasi alles, was sie wissen müssen oder an das sie sich erinnern sollten.
Müssen und sollen – diese Modalverben (wer muss das jetzt nachschauen?) sind Schlüsselwörter, die jenen Teil des Lernens betreffen, auf den die meisten Menschen am wenigsten Lust haben: das Auswendiglernen. Denn Auswendiglernen passiert nie nebenbei, sondern geschieht stets absichtsvoll, wobei dahinter oft genug nicht die eigene Absicht steht. Das ist anstrengend, kostet Überwindung und erfordert Disziplin. Entsprechend wuchtig klingen die Synonyme: pauken, büffeln, sich einhämmern.
Wie leicht fällt es dagegen, sich Dinge zu merken, die positiv besetzt sind:
Bei einem Hobby lernt man in kurzer Zeit sehr viel, weil es Spaß macht. Selbst durch eine komplizierte Gebrauchsanweisung quält man sich vergleichsweise motiviert, weil am Ende der geschmeidige Gebrauch von Technik winkt. Das menschliche Gehirn ist darauf ausgelegt, das Sahneschnittchen stets dem Schwarzbrot vorzuziehen. Warum auch sollte einer wissen, wann genau der Buchdruck erfunden wurde, was in Artikel eins des Grundgesetzes steht oder warum Sokrates sterben musste? Es gibt doch keine Gewissheit, ob so was jemals wichtig wird.
Stimmt. Aber exakt so lässt sich das genaue Gegenteil begründen.
Viele Dinge, die wir auswendig lernten, erschienen auf den ersten Blick unnütz. Etwa ein Gedicht. Aber dann begleitet es einen das ganze Leben lang. Etwa die Zeilen am Ende von Johann Christian Günthers 200 Jahre altem „Lob des Winters“, in denen es heißt: „Der Winter bleibt der Kern von Jahre / Im Winter bin ich munter dran / Der Winter ist ein Bild der Bahre / Und lehrt mich leben, weil ich kann.“Erst später, als sich die großen Fragen des Daseins allmählich erschlossen, hat man verstanden, dass es gut tut, diese Zeilen zu kennen und sie wieder an sich heranzulassen. Man hat verstanden, dass Gedichte in dieser profanen Welt von etwas handeln, was wirklich zählt.
Grundsätzlich erweitert jedes im Gehirn abgespeicherte Wissen die Möglichkeit, sich zu orientieren. Die Fähigkeit, Verbindungen zwischen Daten herzustellen und in dieses Netz auch noch Erfahrungen zu weben, ermöglicht erst jene Unabhängigkeit, Kompetenz und Freiheit, die nur Menschen eigen ist. „Es gibt ein Glück des Denkens, das durch andere Glückszustände nicht ersetzbar ist“, hat der kluge Publizist und Moderator Roger Willemsen einmal das inwendige Erlebnis beschrieben, das auch auf Auswendiggelerntem beruht. Dabei helfen können die riesigen externen Gedächtnisse durchaus,
„Lernen ist wie Rudern gegen den Strom – hört man damit auf, treibt man zurück“
Laozi Chinesischer Philosoph