Mordverdächtiger war auf der Flucht
Nach dem Tod eines Jungen im Frankfurter Hauptbahnhof wurden Details zum Tatverdächtigen bekannt. Der 40-Jährige hatte bereits vor einer Woche seine Nachbarin in der Schweiz mit einem Messer bedroht. Er war zur Festnahme ausgeschrieben.
FRANKFURT/MAIN (dpa) Am Eingang zum Bahnsteig stehen Grablichter, liegen Blumen und Kuscheltiere. Ein Teddybär hält einen handgeschriebenen Zettel mit der Frage des Tages: „Warum?“Warum musste der kleine Junge am Montag sterben? Wie konnte es passieren, dass der Achtjährige vor den einfahrenden Zug gestoßen wurde? Was ging in dem Täter vor? Antworten hat am Dienstag am Frankfurter Hauptbahnhof niemand.
Erst am Nachmittag wurde mehr über den mutmaßlichen Täter bekannt. Der 40-jährige Eritreer, der den Jungen am Montag mit einem Stoß vor einen einfahrenden ICE getötet haben soll, lebte seit 2006 in der Schweiz, war verheiratet und Vater von drei Kindern, wie eine Sprecherin der Frankfurter Staatsanwaltschaft sagte. Laut Züricher Polizei war der Mann in diesem Jahr in psychiatrischer Behandlung. Vergangene Woche kam es dann zu einer Gewalteskalation, und der Mann floh aus der Schweiz. Hinweise auf eine Radikalisierung fanden die Ermittler nach eigenen Angaben nicht.
Die Ermittler in Deutschland und der Schweiz verkündeten am Dienstag nach und nach ihre ersten Ergebnisse – wie ein Puzzle fügten sich die Informationen zusammen. Der Kantonspolizei Zürich zufolge sperrte der 40-jährige Mann vergangenen Donnerstag seine Ehefrau und die drei gemeinsamen Kleinkinder im Alter von ein, drei und vier Jahren sowie eine Nachbarin in ihren Wohnungen in Wädenswil ein. Zuvor hatte er demnach die Nachbarin angegriffen und sie verbal sowie mit einem Messer bedroht. Daraufhin sei er in der Schweiz zur Festnahme ausgeschrieben gewesen, sagte Bundespolizeipräsident Dieter Romann in Berlin bei einer gemeinsamen Pressekonferenz mit Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) und Holger Münch, Präsident des Bundeskriminalamts (BKA).
Das Motiv für die Tat bleibt weiter unklar. Am Montag hatte der Verdächtige den achtjährigen Jungen und dessen Mutter vor einen einfahrenden ICE gestoßen. Der Junge starb noch im Gleisbett, die Mutter konnte sich retten und wurde verletzt. Eine dritte Person, eine 78-jährige Frau, die der Mann ebenfalls attackiert hatte, brachte sich in Sicherheit. Die Mutter erlitt einen schweren Schock und wurde ins Krankenhaus gebracht. Die 78-Jährige erlitt eine Schulterverletzung und ebenfalls einen Schock. Im Anschluss an die Tat flüchtete der Tatverdächtige, wurde hierbei aber von Passanten verfolgt und konnte wenig später von Polizisten festgenommen werden.
Seehofer zufolge reiste der Mann „offensichtlich legal“nach Deutschland ein. Es sei davon auszugehen, dass er an der Grenze nicht kontrolliert wurde, sagte Romann: „An der Grenze zur Schweiz gibt es auch keine reguläre Grenzkontrolle.“Nach Angaben der Frankfurter Staatsanwaltschaft gab der 40-Jährige an, vor wenigen Tagen von Basel mit dem Zug nach Frankfurt gefahren zu sein. In Deutschland war er demnach bislang nicht polizeibekannt.
Wie Bundespolizeipräsident Romann berichtete, war der Mann 2006 unerlaubt in die Schweiz eingereist und hatte dort Asyl beantragt, was ihm zwei Jahre später gewährt wurde. „Er besitzt seitdem in der Schweiz die Niederlassungsbewilligung der Kategorie C, das heißt gut integriert“, sagte Romann. Der Verdächtige sei einer festen Arbeit nachgegangen, „aus Sicht der Ausländerund Asylbehörden in der Schweiz vorbildlich“.
Er sei in Publikationen als Beispiel gelungener Integration genannt worden, sagte Seehofer. Der GewaltausbruchvergangeneWoche sei für die Ehefrau und die Nachbarin überraschend gewesen, so die Schweizer Polizei. „Sie sagten übereinstimmend aus, dass sie ihn noch nie so erlebt hätten“, sagte ein Polizeisprecher.
Der 40-Jährige arbeitete den Angaben zufolge seit Januar 2019 nicht mehr. Er war wegen psychischer Probleme krankgeschrieben. Vor dem Vorfall vom 25. Juli war der Tatverdächtige der Polizei nur wegen eines geringfügigen Verkehrsdelikts bekannt.
Gegen den Mann wurde am Dienstag Haftbefehl erlassen. Ihm wird Mord und versuchter Mord in zwei Fällen vorgeworfen. Hinweise, dass der Mann unter Alkohol oder Drogeneinfluss gestanden habe, hat die Staatsanwaltschaft eigenen Angaben zufolge bislang nicht. Eine erste Atemkontrolle auf Alkohol nach der Tat habe 0,0 Promille ergeben, sagte die Sprecherin.
Derzeit gehen die Ermittler davon aus, dass es keinen Zusammenhang zu den Ereignissen im hessischen Wächtersbach gibt. „Wir ermitteln aber in alle Richtungen“, sagte die Sprecherin der Staatsanwaltschaft. In Wächtersbach war in der vergangenen Woche ein 26-jähriger Eritreer angeschossen worden. Der mutmaßliche Täter, ein 55-jähriger Deutscher, floh nach der Tat und erschoss sich selbst. Hinter dem Angriff steht nach Ansicht der Ermittler „ganz klar ein fremdenfeindliches Motiv“. Allerdings ergaben sich keine Hinweise auf Kontakte des Manns in die rechtsextreme Szene.
Am Dienstagabend wollte die Bahnhofsmission zusammen mit der evangelischen Hoffnungsgemeinde und der katholischen Domgemeinde eine Andacht auf dem Bahnhofsvorplatz abhalten.