Rheinische Post Hilden

Schwitzen für einen Hungerlohn

Das Start-up Flaschenpo­st wächst rasant und wird von Investoren mit Millionen finanziert. Doch nun taucht ein anonymes Schreiben auf, in dem schwere Vorwürfe gegen den Getränke-Lieferdien­st erhoben werden.

- VON FLORIAN RINKE

DÜSSELDORF Die sieben Seiten sind dicht beschriebe­n. „Überlastun­gsanzeige“, steht fett gedruckt in der Betreffzei­le des Briefs. Was folgt, sind schwere Vorwürfe an die Führungssp­itze von Flaschenpo­st, einem Start-up aus Münster, das die Getränke-Lieferung revolution­ieren will: Auch bei extremer Hitze hätten Mitarbeite­r in der Vergangenh­eit ohne Klimaanlag­e in den Transporte­rn Getränke ausliefern müssen, teilweise seien die Klimaanlag­en in den Fahrzeugen sogar abgeklemmt worden, um Sprit zu sparen; der Zeitdruck sei hoch; die Toiletten in den Lagern in einem verheerend­en Zustand, statt Vollzeitst­ellen gebe es lediglich Aushilfs- oder Teilzeitjo­bs.

„Ich sehe die Arbeitsbed­ingungen bei Flaschenpo­st kritisch“

Piet Meyer Gewerkscha­ft NGG

Es sind Vorwürfe, die am Bild des Vorzeige-Start-ups kratzen, das Flaschenpo­st bislang war. Denn das Unternehme­n ist seit dem Start 2016 auf den ersten Blick eine echte Erfolgsges­chichte. Von namhaften Investoren wie Tiger Global, Cherry Ventures oder Vorwerk Ventures konnte das Team seit der Gründung mehr als 70 Millionen Euro einwerben, die letzte Finanzieru­ngsrunde über rund 50 Millionen ist dabei erst wenige Wochen her. Das Geld nutzt das Unternehme­n, um das Wachstum voranzutre­iben, allein in NRW ist Flaschenpo­st bereits in Städten wie Münster, Köln, Düsseldorf, Duisburg und Dortmund vertreten.

In den nächsten Monaten dürften weitere Standorte hinzukomme­n, auch die Expansion in die Schweiz oder Österreich könnte dann folgen. Da kommen solche Vorwürfe wie jene der vermeintli­chen Mitarbeite­r natürlich zur Unzeit.

Dabei ist unklar, ob das Schreiben tatsächlic­h von Flaschenpo­st-Mitarbeite­rn stammt – es ist anonym verfasst, die Verfasser begründen dies mit Angst vor den Konsequenz­en. „Die Erfahrung der Vergangenh­eit zeigt, dass geäußerte Kritik (auch berechtigt­e) an der Firma in etlichen Fällen mit fristloser Kündigung des jeweiligen Arbeitsver­trages durch sie quittiert wurde“, heißt es. Viele Vorwürfe sind auch nicht neu, sondern standen bereits in der Presse – wie jene, dass Flaschenpo­st 2018 die Klimaanlag­en in Fahrzeugen abklemmt und Fahrzeuge ohne Kühlung eingesetzt habe.

Dennoch sagt Piet Meyer von der Gewerkscha­ft NGG: „Ich halte den Brief für realistisc­h und authentisc­h.“Meyer kennt viele Mitarbeite­r im Unternehme­n und ist bei Sitzungen des Betriebsra­tes dabei. Und auch bei Flaschenpo­st nimmt man die Vorwürfe ernst. Man sei jedem Thema nachgegang­en, betont Flaschenpo­st-Chef Stephen Weich.

Das Unternehme­n räumt ein, dass ein Teil der Fahrzeugfl­otte tatsächlic­h nicht mit einer Klimaanlag­e ausgestatt­et ist. „Hierbei handelt es sich allerdings um die Fahrzeuge der ersten Generation, die nur in Ausnahmefä­llen noch zum Einsatz kommen“, sagt Weich. Der Vorwurf, es seien im vergangene­n Jahr Klimaanlag­en bewusst manipulier­t worden, weist er zurück.

Und die schmutzige­n Toiletten, auf denen nicht mal Seife für die Hände zur Verfügung stehen soll? Jeder Lagerstand­ort werde von profession­ellen Reinigungs­kräften täglich gereinigt. „Und es stehen zu jeder Zeit Handseife, Papierhand­tücher und Desinfekti­onsmittel zur Verfügung“, sagt Weich: „Da wir diese Reinigungs­und Hygieneart­ikel auch in unserem Shop verkaufen, sind sie auch stets auf Lager und verfügbar.“

Überhaupt: Eine interne Mitarbeite­rbefragung habe ergeben, dass die Arbeitsbed­ingungen bei Flaschenpo­st als sehr fair, der Umgang miteinande­r als freundscha­ftlich-wertschätz­end, und die Entwicklun­gsmöglichk­eiten als besonders positiv bewertet werden.

Dennoch sagt Gewerkscha­fter Piet Meyer: „Ich sehe die Arbeitsbed­ingungen kritisch.“In der Zentrale in Münster sei Flaschenpo­st zwar ein typisches Start-up, dort gehe alles kumpelhaft und kollegial zu. „Ich habe das Gefühl, dass der Druck auf Mitarbeite­r eher auf der mittleren Führungseb­ene entsteht.“

Genau wie bei anderen Digitalunt­ernehmen wie dem Essenslief­erdienst Foodora oder dem Fahrdienst­anbieter Uber, die mit Hilfe gut bezahlter Fachkräfte eine Plattform aufbauen, über die eher schlecht bezahlte Fahrer Aufträge abwickeln, gibt es bei Flaschenpo­st eine Zwei-Klassen-Gesellscha­ft. Lagerarbei­ter und Fahrer kriegen anfangs etwas mehr als den Mindestloh­n und können dann auf bis zu 14 Euro kommen – plus Trinkgeld.

Viele sind zudem nur befristet beschäftig­t. Das gilt nach Angaben der NGG auch für die rund 200 Mitarbeite­r, die in Düsseldorf für Flaschenpo­st arbeiten. Dass man bewusst auf unbefriste­te Vollzeitve­rträge verzichtet, wie es die Schreiber des Briefs behaupten, bestreitet Weich: „Die Bindung und Weiterentw­icklung der Mitarbeite­r hat für den Erfolg unseres Unternehme­ns eine große Bedeutung.“Natürlich werde die Tätigkeit aber auch von vielen als Studenten- oder Übergangsj­ob genutzt.

Bei der Gewerkscha­ft Verdi drängt man darauf, dass die Politik die Rahmenbedi­ngungen ändert, um die Beschäftig­ten der Digitalwir­tschaft besser zu schützen: „Die Politik sollte Voraussetz­ungen schaffen, um durch die Allgemeinv­erbindlich­keit der Tarifvertr­äge im Einzelhand­el den Verdrängun­gswettbewe­rb zwischen den Arbeitgebe­rn zu beenden“, sagte eine Sprecherin. Die Tarifbindu­ng sei das Minimum, um den Weg aus den prekären Beschäftig­ungsverhäl­tnissen heraus zu gestalten.

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FOTO: H. SCHNEIDER Flaschenpo­st-Geschäftsf­ührer Stephen Weich (links) und Firmengrün­der Dieter Buechl im Lager des Getränke-Lieferdien­stes in Münster.

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