Als der Wagen nicht kam
Meine Schwester hatte einen sehr tüchtigen und menschlich ordentlichen Arzt, Dr. Werwie, aufgetrieben, der, am Kaiserdamm ausgebombt, dicht bei uns in dem Haus der Schauspielerin Käthe Gold wohnte, das in deren Abwesenheit der Schauspieler Kurt Leisel betreute, den wir so kennenlernten. Rings um uns hatte der ganze Film gewohnt, La Jana, Willi Fritsch, Rotrauth Richter, Zarah Leander usw. Werwie, der eigentlich Sportarzt war und Max Schmelings Leibarzt, brachte mich langsam wieder hoch. Er dokterte nicht nur, sondern griff zu, als er sah, dass meine Schwester mit ihren schwachen Kräften das Wasser nicht heranschleppen konnte. Er holte es ihr mit einem selbstgebastelten Handwagen aus dem Grunewaldsee. Das Liegen im Bett war besonders mühsam wegen des gebrochenen Arms. Als er allzu schmerzhaft und die Hand schon taub wurde, schnitt Werwie den Gipsverband schließlich los. Ich sehe noch sein entsetztes Gesicht. Der ganze Arm war blau und ödematös. Der Nazikünstler hatte den Verband zu eng gemacht, so dass das Blut abgeschnürt wurde. Es hat Monate gedauert, bis der Arm wieder gebrauchsfähig wurde, und die Hand ist taub und ungelenk geblieben.
Im Laufe des Juni hatten sich die allgemeinen Verhältnisse etwas gehoben, die allernotwendigste Lebensmittelversorgung lief wieder an, die Verkehrsmittel kamen in Gang, und es entwickelte sich ein politisches Leben unter russischer Patronage, die alles in kommunistischem Sinne einzurichten versuchte. Der frühere Reichsminister Hermes war mit der Lebensmittelversorgung beauftragt worden, auch
Steltzer arbeitete in der Stadtverwaltung und ebenso Lukaschek in der Stadtbank. Hermes ergriff die Initiative zur Gründung einer 316 317 bürgerlichen Partei neben den Sozialdemokraten und Kommunisten. Durch Lukaschek, der jetzt ständig kam, war ich über diese Absicht im Bilde. Wir erwogen die Frage, ob es nicht besser sei, das alte Zentrum wieder aufleben zu lassen auf gemeinschaftlich christlicher Grundlage. Der Name erschien uns nicht als tragfähig wegen der zu großen, aus der Weimarer Zeit mit ihm verbundenen Belastungen. Wir wussten von den Absichten der Neugründung in Westfalen und kannten aus der oberschlesischen Abstimmungszeit den Hauptträger Spiekert, der damals die Verteilung der Reichsmittel für den Abstimmungskampf in der Hand gehabt hatte. Als aber erkenntlich wurde, dass diese Neugründung sich als religiös indifferent bezeichnete und Strick Galen schrieb, er und sein Bruder seien dagegen, ließen wir den Gedanken endgültig fallen.
Hinter dem Plan der Gründung einer neuen bürgerlichen Partei standen noch Kaiser, Dr. Vockel, der frühere Generalsekretär des Zentrums, Steltzer, Friedensburg, der preußische Handelsminister Schreiber, Pechel, Herausgeber der „Deutschen Rundschau“Professor Dovifat, der spätere Bundesminister Lemmer, Graf Paul Yorck und außer Lukaschek und mir noch einige andere, die ich vergessen habe. Wir unterschrieben den Ende Juni veröffentlichten Aufruf zur Gründung. Diese war für das ganze Reich gedacht und liegt meiner Erinnerung nach vor der Gründung der Christlich-Demokratischen Union im Westen durch Adenauer, der aber infolge seines Spannungsverhältnisses zu Kaiser diesen Vorrang, der die Bedeutung von Berlin von Anfang an klar herausgestellt hätte, nie anerkennen wollte.
Der Gründungsaufruf war nicht sehr gut, enthielt aber auch nichts Schlimmes. Sehr problematisch waren die Kirchen- und Schulfragen behandelt, an denen sich die Spannungen zeigten, die auch bei der Namensgebung auftraten, Hermes wollte ursprünglich eine „Demokratische Union“als Sammelbecken für alle nichtsozialistischen Staatsbürger.
Der Gedanke war schon deshalb nicht gut, weil damit zwangsläufig Sozialdemokraten und Kommunisten in eine gemeinsa- 317 318 me Front und zur Vereinigung gebracht worden wären. Eine Demokratie mit nur zwei Parteien hat gewiss ihre Vorteile, in der damaligen Notlage aber wäre es ein Unglück gewesen, wenn alle Gegensätze ungemildert und ohne Ausgleichsmöglichkeit aufeinandergeprallt wären. Die weithin widerstreitenden Ansichten innerhalb des bürgerlichen Blocks hätten diesen gegenüber den viel leichter zu vereinenden Sozialisten handlungsunfähig gemacht. Diese, einmal zur Macht gelangt, hätten sich nur schwer der Versuchung entziehen können, eine neue sozialistische Diktatur zu errichten. Es war daher vorzuziehen, dass die sich bereits formende demokratische Partei mit klarem liberalem Programm neben einer christlichen Partei zu Bestand kam.
Die meisten Gründer erstrebten eine christliche Partei. Die Protestanten, selbst Steltzer, hatten aber eine merkwürdige Scheu davor, das im Namen der Partei zum Ausdruck zu bringen. Sie glaubten, durch Fortlassung des Wortes „christlich“die Kreise ansprechen zu können, die nicht mehr christlich, aber auch nicht feindlich gegenüber Christentum und Kirche eingestellt waren. Offenbar glaubten sie, dass es nicht mehr genügend Leute mit hinreichend christlicher Substanz in Deutschland gäbe, um eine tragfähige politische Partei daraus zu formen. Lukaschek, Vockel und ich haben aber immer wieder auf der Bezeichnung „christlich“bestanden.
Es entstand dann auch die übereinstimmende Überzeugung, dass die Partei in ihrem Namen die Bezeichnung „christlich“tragen müsse. Das Wort „demokratisch“wurde als selbstverständlich nötig angesehen zwecks Absetzung von der vergangenen Diktatur. Es bestand also über diese beiden Attribute Einigkeit. Der Streit ging dann aber weiter über die Art der Verbindung der beiden Worte. Lukaschek, Vockel und ich verlangten die Bezeichnung „Christliche Demokratische Union“. Damit wäre der ausschließlich christliche Charakter der Partei bestimmt gewesen mit dem erläuternden Zusatz „demokratisch“, und durch das Wort „Union“die Einheitlichkeit zwischen den Konfessionen. Wir blieben aber mit diesem Vorschlag allein. Die Mehrheit beschloss den jetzigen Namen „Christlich-Demokratische Union“. Der Fortfall des einzigen Buchstabens „e“beseitigte den ausschließlich christlichen Charakter der Partei und setzte die beiden Komponenten „christlich“und „demokratisch „ als getrennt und gleichberechtigt nebeneinander.