Integration braucht Streitkultur
Mehr Teilhabe führt zu mehr Konflikten: Wenn wir eine offene Gesellschaft sein wollen, gehört das Streiten dazu. Dieser Zusammenhang sollte verinnerlicht werden, bevor über eine Leitkultur diskutiert werden kann.
Stellen Sie sich vor: Es gibt eine Gruppe von Menschen, die waren schon immer da. Wie sie leben, wie sprechen, was sie essen und wie sie lieben, ist die Norm. Man kennt sich, man versteht sich, man teilt die Welt unter sich auf. Und dann gibt es da noch andere. Sie leben anders, sehen vielleicht anders aus, sprechen anders und lieben anders. Sie gehören zwar irgendwie zu der Gruppe dazu, aber sie sind stumm, unsichtbar und außen vor. Es vergehen Jahre, und die Gesellschaft öffnet sich. Die „anderen“erlangen Rechte, Chancen und Teilhabe, dadurch werden sie sich ihrer Stimme bewusst und fangen an mitzureden. Was ist wahrscheinlicher? Dass, wenn mehr Menschen unterschiedlicher Ansichten, Ziele und Erwartungen miteinander diskutieren, es harmonischer wird? Oder dass es knirscht? Letzteres selbstverständlich.
Es ist einer der populärsten Fehlschlüsse: Eine positive gesellschaftliche Entwicklung zeige sich daran, dass es insgesamt harmonischer zugeht. Das Ziel, eine konfliktfreie Gesellschaft, soll unter anderem durch gelungene Integration erreicht werden. Welch unrealistische Annahme.
Integration, das ist Teilhabe, Ankommen, Mitmachen- und Mitwirkenwollen. Wenn Integration, Inklusion, Emanzipation, Chancengleichheit und all diese hehren gesellschaftlichen Ziele erreicht werden, dann wird es nicht konfliktfreier – im Gegenteil: Es wird lauter und chaotischer. Denn es bekommen mehr Menschen eine Stimme. Menschen, die vorher vom gesellschaftlichen Diskurs ausgeschlossen waren, diskutieren nun rege mit. Mehr Stimmen, mehr Meinungen, mehr Konfliktpotenzial.
Gelungene Integration führt also nicht zu einem Multikulti-Paradies, in dem alle Menschen gemeinsam selig über die mannigfaltigen Vorzüge von Vielfalt philosophieren, während auf
der Picknickdecke türkische Börek, vietnamesische Sommerrollen, Mettigel und syrisches Süßgebäck ausgebreitet werden. Nein, Integration ist die Öffnung der Arena: aus- und verhandeln, erkämpfen, abgeben und neu regeln.
Diesen Widerspruch zwischen Harmonie-Erwartung und Konflikt-Realität nennt der Migrationsforscher Aladin El-Mafaalani das „Integrationsparadox“. In seinem gleichnamigen Sachbuch mit dem Untertitel „Warum gelungene Integration zu mehr Konflikten führt“verdeutlicht er anhand mehrerer Beispiele, Anekdoten und Metaphern diesen an sich sehr schlüssigen Zusammenhang, den er in der Formel zusammenfasst: „Zusammenwachsen tut weh.“
Streit und Konflikte sind also erst mal nichts Schlechtes, im Gegenteil. Sie sind ein Zeichen dafür, dass unterschiedliche Ansichten miteinander konkurrieren, was voraussetzt, dass sie überhaupt zugelassen werden und sich auf Augenhöhe begegnen können.
Das Problem: Nicht jeder findet Gefallen an diesen Auseinandersetzungen. Denn in Teilhabe steckt auch teilen. Und geteilt werden muss mit immer mehr Gruppen: Frauen, Gastarbeiter, deren Kinder und Kindeskinder, Homo-, Trans- und Intersexuelle, Menschen mit Behinderung. Wenn Integration anstrengend für alle ist, gibt es auch jene, denen es zu anstrengend ist. Und welche, die sich gar nicht anstrengen wollen.
Wenn man wie El-Mafaalani die Integration und den Weg zur offenen Gesellschaft mit der Metapher des Bergsteigens vergleicht, dann muss man dem Autor auch in der Destillation des Kernproblems zustimmen: Ja, einige wollen vielleicht auf halbem Weg zurückkehren und sehnen sich nach dem Tal. Doch die eigentliche Erschwernis ist das Fehlen eines definierten Ziels. Das macht das Steigen noch anstrengender. Wenn klare Zukunftsperspektiven, sinnstiftende Narrative und positive Selbstbilder fehlen, greift Orientierungslosigkeit um Aladin El-Mafaalani Migrationsforscher und Autor sich. Weswegen steigen wir überhaupt auf diesen Berg?
Doch wie soll so ein Ziel aussehen? Wachstum, Wohlstand, Stabilität – die alten (quantitativen) Ziele gelten nicht mehr, denn sie sind weitestgehend erreicht. „Ein neues Zukunftsziel müsste einer neuen Logik entsprechen“, sagt El-Mafaalani. „Jetzt muss es um die Qualität gehen und um eine Vision, die global, inklusiv und kompatibel mit einer Weltgemeinschaft ist.“Der Gedanke an Klima- und Umweltschutz liegt natürlich nahe. Wäre das nicht die alle verbindende Vision? Es kann doch niemand etwas dagegen haben, den Planeten zu retten? Nun, abgesehen davon, dass immer noch ein nicht unwesentlicher Teil unserer Gesellschaft beharrlich den menschengemachten Klimawandel leugnet, will vielleicht das Gros grundsätzlich die Umwelt schützen, doch sobald es um die Methoden geht, bricht Streit aus. Das Gleiche gilt für Integration und alle Teilbereiche, die damit zusammenhängen. Integration gelingt derzeit so gut wie noch nie, und im EU-Vergleich sind die Populisten nirgendwo so wenig erfolgreich wie hierzulande – Deutschland, der Hort der Stabilität. Trotzdem sind fast alle unzufrieden.
Wo äußere Reibungsflächen fehlen, beginnt man, sich mit sich selbst zu beschäftigen. Heimat, Identität, Wir und Ihr, wer gehört zum Wir und wer nicht – und natürlich die Frage: Brauchen wir nicht eigentlich eine deutsche Leitkultur? Unabhängig von der Frage, ob es überhaupt möglich wäre, eine Leitkultur zu formulieren, die der Diversität unserer Gesellschaft Rechnung trägt und so viele unterschiedliche Gruppen mitnimmt, kann man ganz sachlich feststellen: Schwierig wird es allemal, so eine Leitkultur zu finden, und der Weg dorthin wird gesäumt sein von viel, viel Streit. Deswegen müssen wir es uns erst zur Aufgabe machen, eine ordentliche Streitkultur zu entwickeln. Ein erster Schritt wäre, den Streit von seinem negativen Image zu befreien und ihn als das zu sehen, was er ist: etwas, was uns zusammenhält. Man kann über Unisex-Toiletten diese oder jene Meinung haben, Kopftücher verbieten oder zelebrieren wollen – was uns aber eint, ist, dass wir darüber streiten. Wenn wir das verinnerlicht haben und in der Lage sind, uns zivilisiert an den Meinungen anderer zu reiben, dann könnten wir uns auch auf den Weg zu anderen, ambitionierteren Zielen machen.
Die Antwort darauf, wie ein solches Ziel aussehen könnte, bleibt El-Mafaalani in seinem Buch freilich schuldig. Alles andere wäre vermutlich auch fern von Seriosität. Der einzige Trost nach der Lektüre bleibt in der Umbewertung des Konflikts: Ja, wir streiten derzeit viel – und das ist auch ganz gut so.
„Zusammenwachsen tut weh“