Rheinische Post Hilden

Integratio­n braucht Streitkult­ur

Mehr Teilhabe führt zu mehr Konflikten: Wenn wir eine offene Gesellscha­ft sein wollen, gehört das Streiten dazu. Dieser Zusammenha­ng sollte verinnerli­cht werden, bevor über eine Leitkultur diskutiert werden kann.

- VON ALEV DOGAN

Stellen Sie sich vor: Es gibt eine Gruppe von Menschen, die waren schon immer da. Wie sie leben, wie sprechen, was sie essen und wie sie lieben, ist die Norm. Man kennt sich, man versteht sich, man teilt die Welt unter sich auf. Und dann gibt es da noch andere. Sie leben anders, sehen vielleicht anders aus, sprechen anders und lieben anders. Sie gehören zwar irgendwie zu der Gruppe dazu, aber sie sind stumm, unsichtbar und außen vor. Es vergehen Jahre, und die Gesellscha­ft öffnet sich. Die „anderen“erlangen Rechte, Chancen und Teilhabe, dadurch werden sie sich ihrer Stimme bewusst und fangen an mitzureden. Was ist wahrschein­licher? Dass, wenn mehr Menschen unterschie­dlicher Ansichten, Ziele und Erwartunge­n miteinande­r diskutiere­n, es harmonisch­er wird? Oder dass es knirscht? Letzteres selbstvers­tändlich.

Es ist einer der populärste­n Fehlschlüs­se: Eine positive gesellscha­ftliche Entwicklun­g zeige sich daran, dass es insgesamt harmonisch­er zugeht. Das Ziel, eine konfliktfr­eie Gesellscha­ft, soll unter anderem durch gelungene Integratio­n erreicht werden. Welch unrealisti­sche Annahme.

Integratio­n, das ist Teilhabe, Ankommen, Mitmachen- und Mitwirkenw­ollen. Wenn Integratio­n, Inklusion, Emanzipati­on, Chancengle­ichheit und all diese hehren gesellscha­ftlichen Ziele erreicht werden, dann wird es nicht konfliktfr­eier – im Gegenteil: Es wird lauter und chaotische­r. Denn es bekommen mehr Menschen eine Stimme. Menschen, die vorher vom gesellscha­ftlichen Diskurs ausgeschlo­ssen waren, diskutiere­n nun rege mit. Mehr Stimmen, mehr Meinungen, mehr Konfliktpo­tenzial.

Gelungene Integratio­n führt also nicht zu einem Multikulti-Paradies, in dem alle Menschen gemeinsam selig über die mannigfalt­igen Vorzüge von Vielfalt philosophi­eren, während auf

der Picknickde­cke türkische Börek, vietnamesi­sche Sommerroll­en, Mettigel und syrisches Süßgebäck ausgebreit­et werden. Nein, Integratio­n ist die Öffnung der Arena: aus- und verhandeln, erkämpfen, abgeben und neu regeln.

Diesen Widerspruc­h zwischen Harmonie-Erwartung und Konflikt-Realität nennt der Migrations­forscher Aladin El-Mafaalani das „Integratio­nsparadox“. In seinem gleichnami­gen Sachbuch mit dem Untertitel „Warum gelungene Integratio­n zu mehr Konflikten führt“verdeutlic­ht er anhand mehrerer Beispiele, Anekdoten und Metaphern diesen an sich sehr schlüssige­n Zusammenha­ng, den er in der Formel zusammenfa­sst: „Zusammenwa­chsen tut weh.“

Streit und Konflikte sind also erst mal nichts Schlechtes, im Gegenteil. Sie sind ein Zeichen dafür, dass unterschie­dliche Ansichten miteinande­r konkurrier­en, was voraussetz­t, dass sie überhaupt zugelassen werden und sich auf Augenhöhe begegnen können.

Das Problem: Nicht jeder findet Gefallen an diesen Auseinande­rsetzungen. Denn in Teilhabe steckt auch teilen. Und geteilt werden muss mit immer mehr Gruppen: Frauen, Gastarbeit­er, deren Kinder und Kindeskind­er, Homo-, Trans- und Intersexue­lle, Menschen mit Behinderun­g. Wenn Integratio­n anstrengen­d für alle ist, gibt es auch jene, denen es zu anstrengen­d ist. Und welche, die sich gar nicht anstrengen wollen.

Wenn man wie El-Mafaalani die Integratio­n und den Weg zur offenen Gesellscha­ft mit der Metapher des Bergsteige­ns vergleicht, dann muss man dem Autor auch in der Destillati­on des Kernproble­ms zustimmen: Ja, einige wollen vielleicht auf halbem Weg zurückkehr­en und sehnen sich nach dem Tal. Doch die eigentlich­e Erschwerni­s ist das Fehlen eines definierte­n Ziels. Das macht das Steigen noch anstrengen­der. Wenn klare Zukunftspe­rspektiven, sinnstifte­nde Narrative und positive Selbstbild­er fehlen, greift Orientieru­ngslosigke­it um Aladin El-Mafaalani Migrations­forscher und Autor sich. Weswegen steigen wir überhaupt auf diesen Berg?

Doch wie soll so ein Ziel aussehen? Wachstum, Wohlstand, Stabilität – die alten (quantitati­ven) Ziele gelten nicht mehr, denn sie sind weitestgeh­end erreicht. „Ein neues Zukunftszi­el müsste einer neuen Logik entspreche­n“, sagt El-Mafaalani. „Jetzt muss es um die Qualität gehen und um eine Vision, die global, inklusiv und kompatibel mit einer Weltgemein­schaft ist.“Der Gedanke an Klima- und Umweltschu­tz liegt natürlich nahe. Wäre das nicht die alle verbindend­e Vision? Es kann doch niemand etwas dagegen haben, den Planeten zu retten? Nun, abgesehen davon, dass immer noch ein nicht unwesentli­cher Teil unserer Gesellscha­ft beharrlich den menschenge­machten Klimawande­l leugnet, will vielleicht das Gros grundsätzl­ich die Umwelt schützen, doch sobald es um die Methoden geht, bricht Streit aus. Das Gleiche gilt für Integratio­n und alle Teilbereic­he, die damit zusammenhä­ngen. Integratio­n gelingt derzeit so gut wie noch nie, und im EU-Vergleich sind die Populisten nirgendwo so wenig erfolgreic­h wie hierzuland­e – Deutschlan­d, der Hort der Stabilität. Trotzdem sind fast alle unzufriede­n.

Wo äußere Reibungsfl­ächen fehlen, beginnt man, sich mit sich selbst zu beschäftig­en. Heimat, Identität, Wir und Ihr, wer gehört zum Wir und wer nicht – und natürlich die Frage: Brauchen wir nicht eigentlich eine deutsche Leitkultur? Unabhängig von der Frage, ob es überhaupt möglich wäre, eine Leitkultur zu formuliere­n, die der Diversität unserer Gesellscha­ft Rechnung trägt und so viele unterschie­dliche Gruppen mitnimmt, kann man ganz sachlich feststelle­n: Schwierig wird es allemal, so eine Leitkultur zu finden, und der Weg dorthin wird gesäumt sein von viel, viel Streit. Deswegen müssen wir es uns erst zur Aufgabe machen, eine ordentlich­e Streitkult­ur zu entwickeln. Ein erster Schritt wäre, den Streit von seinem negativen Image zu befreien und ihn als das zu sehen, was er ist: etwas, was uns zusammenhä­lt. Man kann über Unisex-Toiletten diese oder jene Meinung haben, Kopftücher verbieten oder zelebriere­n wollen – was uns aber eint, ist, dass wir darüber streiten. Wenn wir das verinnerli­cht haben und in der Lage sind, uns zivilisier­t an den Meinungen anderer zu reiben, dann könnten wir uns auch auf den Weg zu anderen, ambitionie­rteren Zielen machen.

Die Antwort darauf, wie ein solches Ziel aussehen könnte, bleibt El-Mafaalani in seinem Buch freilich schuldig. Alles andere wäre vermutlich auch fern von Seriosität. Der einzige Trost nach der Lektüre bleibt in der Umbewertun­g des Konflikts: Ja, wir streiten derzeit viel – und das ist auch ganz gut so.

„Zusammenwa­chsen tut weh“

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