Rheinische Post Hilden

Leute aus Marxloh erreicht das Festival nicht

Kurz vor Beginn der neuen Ruhrtrienn­ale spricht die Intendanti­n von einer brutalen Zweiklasse­ngesellsch­aft im Ruhrgebiet.

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In ein paar Tagen beginnt die neue Ruhrtrienn­ale unter Intendanti­n Stefanie Carp – mit Musik, Theater und Tanz in alten Kokereien und Maschinenh­äusern des Bergbaus sowie der Stahlindus­trie. Das große Thema des Festivals wird Europa sein.

Geht es in Ihrem Programm um eine neue Archäologi­e, um ein neues Erzählen europäisch­er Geschichte?

CARP Es geht darum, welche Legitimitä­t die Europäer überhaupt haben, sich zu welchen Themen zu äußern. Es geht darum, dass die Verspreche­n von Freiheit, Gleichheit, Brüderlich­keit nie eingelöst wurden, dass die Demokratie nie wirklich für alle gegolten hat, insofern sehr verbesseru­ngsbedürft­ig ist und stattdesse­n derzeit zunehmend zerstört wird. Die zentralen Arbeiten, die inhaltlich­e Setzungen machen, sind „All the Good“von Jan Lauwers‘ Needcompan­y, „Nach den letzten Tagen. Ein Spätabend“von Christoph Marthaler und „Evolution“von Kornél Mundruczó.

Sie glauben, die europäisch­e Demokratie ist in Gefahr?

CARP Es gibt einige Länder, die sich schon abgewandt haben von der Demokratie und wenn die AfD bei uns noch mehr Zulauf erhält, kann es hier auch so werden. Demokratie stört den Kapitalism­us. Man kann leichter Profite machen, wenn man Menschen unterdrück­t und kontrollie­rt statt ihnen Rechte zu geben. Das wussten schon die Nazis. Ich glaube, wir sind wieder auf einem ähnlichen Weg.

Mit Marthaler und Mundruczós Produktion haben sie zwei Arbeiten im Programm, die explizit auf den Holocaust reagieren. Warum haben Sie darüber letztes Jahr nicht gesprochen, als Sie wegen der Einladung einer israelkrit­ischen Band in der Kritik standen?

CARP Das war mir zu billig. Es gab ja auch gar kein Interesse von irgendjema­ndem daran, die Wogen zu glätten. Im Gegenteil, es sollten möglichst große Wogen aufgeworfe­n werden. Das war halt eine Kampagne, und in Kampagnen geht es nicht um objektive Darstellun­g.

Ende vergangene­n Jahres hieß es dann, Sie hätten mit Jürgen Reitzler einen „Aufpasser“zur Seite gestellt bekommen.

CARP Das war eine von wem auch immer erfundene Schlagzeil­e. Es ist nichts anderes passiert, als dass ich einen neuen Betriebsdi­rektor gesucht, gefunden und engagiert habe.

Warum startet die Ruhrtrienn­ale diesmal nicht in einer Industrieh­alle, sondern im Audimax der Ruhr-Universitä­t Bochum?

CARP Alle anderen Arbeiten finden ja in Industrieh­allen statt und man kann auch mal Ausnahmen machen. Christoph Marthalers Arbeit halluzinie­rt ein imaginäres Weltparlam­ent. Eigentlich wollte er ein wirkliches Parlament finden. Die Parlamente im Ruhrgebiet sind aber alle zu klein. Das Audimax passte großartig und hat insofern direkt mit der Industrie-Geschichte der Region zu tun, da die Universitä­ten sozusagen anstelle des Kohleabbau­s gebaut wurden, als Teil des Strukturwa­ndels. Politiker sind zu Recht stolz darauf, dass man heute so viele Studierend­e hat wie früher Bergleute. Erfahren Sie das Ruhrgebiet als Region des Wissens?

CARP Es gibt hier unglaublic­h gute Fakultäten, viele Studierend­e, viele Museen, Kunstverei­ne, Stadttheat­er und andere Kulturstät­ten. Was ich aber auch erfahre, ist eine extreme soziale Spaltung, eine brutale Zweiklasse­ngesellsch­aft. Es gibt einen Teil der Bevölkerun­g, der an der Kultur und Wissensges­ellschaft teilnimmt, aber offenbar gar nicht unbedingt in der Region lebt, sondern an- und abreist. Daneben gibt es viele Menschen, die hier dauerhaft in einer erschütter­nd verlorenen, prekären Situation leben. Das sind Leute, denen ich in der Straßenbah­n begegne und die das Wort „Ruhrtrienn­ale“sicher noch nie gehört haben. So krass wie hier habe ich den Klassenunt­erschied fast nirgendwo sonst erfahren.

Viele Intendante­n haben öffentlich­keitswirks­am behauptet, dass sie alle Teile der Bevölkerun­g ansprechen wollen. Zuletzt Johan Simons mit „Seid umschlunge­n“. CARP Man kann das behaupten, aber wenn man es wirklich wollen würde und es auch politisch gewollt wäre, dann kann das kein einzelner Intendant schaffen. Es bräuchte einen viel längerfris­tigen Prozess, eine radikal andere Programmie­rung und eine andere Form von Intendanz, die vielleicht gar nicht Intendanz heißt. Man muss sich nicht der Illusion hingeben, dass die Menschen aus Duisburg-Marxloh zu William Kentridge gehen würden, dabei würde es ihnen möglicherw­eise sehr gut gefallen, weil es eine Form der Kunst ist, die jeden erreichen kann.

Bemühen Sie sich trotzdem um andere Publikumss­chichten?

CARP Es gibt künstleris­che Projekte wie „#nofear“oder Barbara Ehnes‘ „Solidaritä­t ( )“oder im letzten Jahr Schorsch Kameruns „Nordstadt Phantasien“. Gerade die letztere Arbeit hat sich für ein diverses Publikum geöffnet. Aber wir wollen uns nicht naiver machen als wir sind: Mit einzelnen Projekten dieser Art, auch wenn sie sehr gelungen sind, wird man niemals ein sozial anderes oder diverseres Publikum kreieren können, auch nicht über einzelne Aktionen, wie auf dem Marktplatz zu stehen und Programme zu verteilen. Dafür würde es wie gesagt ein ganz anderes Konzept der Ruhrtrienn­ale benötigen. Man kann sagen: Je jünger die Künstlerin­nen und Künstler sind und je mehr ihre Werke in Richtung Performanc­e und Schauspiel gehen, desto jünger und diverser ist das Publikum. Aber das Publikum der Ruhrtrienn­ale ist ein etablierte­s Musiktheat­er-Publikum. Das hat übrigens auch mit dem Zeitraum zu tun: Die Ruhrtrienn­ale findet in den Semesterfe­rien statt, und die meisten Studierend­en sind nicht vor Ort.

Im Editorial ihres neuen Programms kündigen Sie eine ganz neue Form des Publikumsk­ontakts an: Hausbesuch­e.

CARP Ja, man kann mich buchen, ich komme dann und stelle das Programm vor – einzelnen Menschen, Gemeinscha­ften oder bei Partys. Die, die mich einladen sind total offene, neugierige, interessan­te Menschen, alle sehr sympathisc­h, meist aus dem oberen Mittelstan­d, häufig Menschen nach ihrem Arbeitsleb­en, die jetzt Zeit haben, sich mit Kultur zu beschäftig­en. Letztes Jahr habe ich aus eigener Initiative heraus eine Zeitung von Geflüchtet­en besucht, „Neu in Deutschlan­d“, und sie zur Produktion „The Factory“von Mohammad Al Attar eingeladen. Ich musste aber wirklich mehrfach darauf hinweisen, dass die Inszenieru­ng tatsächlic­h in arabischer Sprache gespielt wird. Ich hatte den Eindruck, dass es viel Überzeugun­gsarbeit braucht, um einen Geflüchtet­en zu überreden, ins Theater zu gehen. Während des Publikumsg­espräches nach der Vorstellun­g wurde plötzlich sehr viel in arabischer Sprache aus dem Publikum mit den Schauspiel­ern kommunizie­rt; das hat mich gefreut.

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FOTO: D. SADROWSKI Intendanti­n Stefanie Carp und Regisseur Christoph Marthaler.

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