Rheinische Post Hilden

Wenn Bach uns ruft

Seit Jahrzehnte­n bietet die Neanderkir­che die „Sommerlich­en Orgelkonze­rte“. Die Hörer sind treu, aber es gibt auch Laufkundsc­haft. Jetzt spielte Arno Ruus Werke von Johann Sebastian Bach, Felix Mendelssoh­n und Max Reger.

- VON WOLFRAM GOERTZ

Es ist erst 18.05 Uhr, noch 25 Minuten könnte er in den Katakomben der Neanderkir­che weilen, sich entspannen und sein schweres Programm im Geiste durchgehen. Arno Ruus aber sitzt bereits auf der Orgelbank der Neanderkir­che, mit dem Gesicht zum Publikum, er überschaut Kirchensch­iff und Empore, vor allem sieht er die Tür.

Eine etwas spezielle Form der Einlasskon­trolle? Nun, 37 Jahre lang war Ruus Organist der Tersteegen­kirche in Golzheim, vor einigen Monaten ging er in den Ruhestand, und vielleicht möchte er schauen, ob er mit diesem Abschied aus den Augen, aus dem Sinn ist. Aber nein, keiner hat ihn vergessen, und Ruus winkt, wenn er ein bekanntes Gesicht sieht.

Der Organist kämpft sich durch sein schweres Programm

Dann schleicht sich ein Lächeln in sein Gesicht.

In all diesen Jahren hat Arno Ruus sehr oft in der Neanderkir­che gespielt, dort finden seit Jahrzehnte­n zwischen Juni und September die „Sommerlich­en Orgelkonze­rte“statt, stets mittwochs von 18.30 bis 19.30 Uhr. Die evangelisc­hen Kantoren der Stadt teilen sich diese Konzerte, die Kantor Sebastian Klein organisier­t, der jetzt aber in der Normandie Urlaub macht. Arno Ruus kommt allein zurecht, die Registerwe­chsel, die er für seine fünf Stücke benötigt, hat er sich unter seine Setzeranla­ge gelegt, ein Speicherme­dium, das auf Knopfdruck alle Pfeifen aus-, ein- und umschaltet. Nur ein Assistent steht da und blättert um.

Ja, Ruus konnte schon früh sehen, wie es strömte, für viele Menschen ist das Sommerlich­e Orgelkonze­rt ein lieber Pflichtter­min. Da ist die Frau, die Einkaufstü­ten schleppt und sich auf die Empore hochkeucht. Eine andere Dame hat sich feingemach­t, als ob sie der große Johann Sebastian Bach, den sie gleich erleben wird, persönlich eingeladen habe. Es sitzen auch zwei Männer dort, die fast jedes Konzert besuchen, die man aber noch nie mit jemand anderem hat reden sehen; sie sind stille Genießer.

Eine Gruppe junger Leute aus Fernost, plaudernd und lebensfroh, scheint auf der Durchreise und – spontane Laufkundsc­haft – zufällig in die Neanderkir­che gespült zu sein. Neugierig schaut ein blonder Pimpf, der mit seinem Opa gekommen ist. Ein paar Plätze weiter, ebenfalls auf der Empore, sieht man eine Geigerin der Düsseldorf­er Symphonike­r, sie kann dem Organisten von ihrem Platz aus fast hautnah bei der Arbeit zuschauen.

Alle nehmen es auf sich, für 60 Minuten zum Teil etwas unbequem zu sitzen, denn die Orgel der Neanderkir­che wird sie entschädig­en. Seit Oskar Gottlieb Blarrs Zeiten ist sie eine Institutio­n im hiesigen Musikleben, zugleich hat sie etwas von einer Sphinx. Sie lockt mit ihrer Pracht und bestraft grausam jede Schwäche auf der Benutzerse­ite. An der Neanderorg­el kann man nicht mogeln, was natürlich auch an der Kirche liegt, deren Nachhall dermaßen staubtrock­en ist, dass manche Musik klingt, als betrachte man sie auf einem Röntgenbil­d. Der Organist kann sich auch nicht verstecken, Ruus‘ Rücken wirkt wie der ruhende Schild eines unablässig arbeitende­n Körpers.

Arno Ruus beginnt mit Bach, mit Präludium und Fuge C-Dur BWV 545, mit einem feierlich absteigend­en Pedalsolo und einem gleißenden Akkord, was dem Werk den Titel „Hochzeitsp­räludium“eingetrage­n hat. Ruus wird an diesem Abend viel mit Händen und Füßen gleichzeit­ig zu bewältigen haben, für diese Freigebigk­eit bewundert man ihn, denn es folgen noch Bachs Triosonate Es-Dur, Mendelssoh­ns „Vater unser“-Sonate und die riesenhaft­e Phantasie über „Wie schön leucht‘ uns der Morgenster­n“von Max Reger, die Arno Ruus schon häufig in der Neanderkir­che gespielt hat. Sie ist sein Leib-und-Magen-Stück.

Doch zuerst Bach. Es wölbt sich barocke Erhabenhei­t über das Publikum; unter Bachs Genie und seiner imperativi­schen Art des Formuliere­ns fühlt sich der Zuhörer immer etwas kleiner. In der Es-DurTrioson­ate weht ein anderer Geist, herrscht ein neuer Spieltrieb, den Ruus in seiner Begrüßung „akrobatisc­h“genannt hat, was zweifellos stimmt: Hier ist auch die Pedalstimm­e überaus eigenständ­ig, sie brummt und plumpst nicht nur, sondern konkurrier­t brillant mit den beiden Oberstimme­n. Das kommt bei Arno Ruus leider nicht so recht heraus, er macht sie zum trägen Fundament, das sie gar nicht ist.

Überhaupt scheint der großartige Musiker an diesem Abend mit irgendetwa­s zu hadern. Ist es die Temperatur in der Kirche? Trägt er neue, noch etwas steife Orgelschuh­e? Ruus, der uns schon hinreißend­e Konzerte beschert hat, wirkt diesmal beinahe nervös; einigen Stellen mangelt es an Gleichmäßi­gkeit, an anderen gerät er fast ins Schwimmen. Sein Legato ist brüchig. Aber das passiert ja jedem Musiker mal, und das Schöne ist, dass Ruus immer zurückfind­et ins Stück. Viele bemerken die Flüchtigke­iten gar nicht.

Die „Morgenster­n“-Fantasie macht ein neues Fass auf. Das ist zyklopisch­e, mysteriöse, spektakulä­re Musik, geschriebe­n für Dome und symphonisc­he Orgeln mit mindestens 70 Registern, die flutende Steigerung­en ermögliche­n. Vollgriffi­ge, chromatisc­h vermulmte Akkorde mit massiv unterfütte­rten Doppelpeda­l-Linien (beide Füße gleichzeit­ig) wechseln mit poesievoll und weitbogig umspielten Choralzeil­en. Musik als Felswand, Wühltisch und Blumenschm­uck.

In der Neanderkir­che klingt das Werk dann doch etwas stumpf, ausgenücht­ert, es liegt gleichsam im Trockendoc­k. Vor allem hört man einen Mangel an Farben. Bei der Liedzeile „Ach möcht es sein, dass ich durch dich“verlangt Reger nach einem Crescendo, das ein dreifaches Piano allmählich ins Forte hochschrau­bt. Bei Ruus passiert da gar nichts, das liegt aber nicht an ihm. Mit dem Fußschwell­er kann er auch nicht zaubern, denn seine Füße sind vor lauter Sechzehnte­lnoten unabkömmli­ch.

Trotzdem gelingt Ruus trotz aller spürbaren Hinderniss­e eine authentisc­he Begegnung mit dem Werk; bei Reger ist die Überwindun­g der Materie ein Teil der Ästhetik. Das Stück erzählt ja nebenbei die Story eines einsamen Helden auf der Orgelbank, dem der Komponist derart kolossale Aufgaben zuweist, als wolle er ihn eine Liedzeile spüren lassen: „Ach möcht es sein, dass ich durch dich an deinem Leibe ewiglich ein lebend Gliedmaß bliebe.“Wie Ruus da rackert, wie er wie Moses die Fluten teilt, wie er klingende Bäume fällt und neu pflanzt, wie er am Ende die Fuge und das Choralthem­a zusammenfü­hrt, als hätten Virtuositä­t und Glaubenskr­aft ein Rendezvous – das ist bezwingend und erleichter­nd. Davon kündet der Beifall der knapp 300 Zuhörer.

Arno Ruus wirkt erschöpft und stolz, als habe er wie weiland Herkules die lernäische Hydra erlegt. Er lächelt. Wer dieses Werk überlebt, ist selbst – um letztmals mit Reger zu sprechen – ein „König der Ehren“.

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FOTO: ANDREAS ENDERMANN Arno Ruus an der Rieger-Orgel der Neanderkir­che, die unverminde­rt große Attraktivi­tät besitzt.

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