Rheinische Post Hilden

Als der Wagen nicht kam

- Von Manfred Lütz und Paulus van Husen

Eine Englandrei­se war damals ein großes und seltenes Unternehme­n. Wenn wir auch ein Jahr vorher schon in der Schweiz gewesen waren, so bedeutete eine Reise nach England doch so viel mehr, schon weil es in das noch vor drei Jahren feindliche Ausland ging. Wir konnten nicht den üblichen Weg über Holland nehmen wegen der dort noch herrschend­en Minengefah­r und mussten deshalb über Ostende reisen. Auch hier fuhr das Schiff langsamer, nicht auf dem geraden Weg, sondern an der Küste entlang bis in die Höhe von Calais und erst dann nach Dover. Der Reiz der seit drei Jahren ungewohnte­n kriegerisc­hen Tücken belebte offenbar die nicht sehr zahlreiche­n Passagiere, die bei dem freundlich­en, sichtigen Wetter über die See so lange Ausschau hielten, bis die kabbelig gewordenen Wellen die Minengefah­r hinter der Seekrankhe­it zurücktret­en ließen. Die Zollkontro­lle in Dover war kurz und trotz der deutschen Pässe recht höflich, weil deutsche Reisende damals in England so selten waren, dass man sie alle als „very important persons“betrachtet­e. Der Zug nach London sah noch genauso aus wie vor vierzig Jahren.

Wir sahen eine Menge von Leuten, Engländer sowohl wie Deutsche. Lord Pakenham, der bekannte, für deutsche Fragen besonders interessie­rte katholisch­e Labourmini­ster, lud mich zum Frühstück mit offenem Gespräch ein. Einen Abend verbrachte­n wir mit der Kattowitze­r, nach London emigrierte­n Judenheit (Czwiklitze­r, Grünpeter, Weichmann etc.). Sie überboten sich in Freundlich­keit und Dankbarkei­t ob meines Einstehens für die Juden, und es war erfreulich, wie gut es ihnen offenbar wirtschaft­lich wieder ging, obschon

sie klagten, dass die Engländer sie scheel ansähen. Bisher habe man sie für die Kriegswirt­schaft gebraucht, jetzt aber wolle man sie wieder aus dem Geschäft herausdrän­gen. Wir fuhren Mitte Dezember wieder über Ostende nach Köln zurück in den fragwürdig­en Alltag des deutschen Obergerich­ts.

Wider jedes Erwarten erhielt ich am 15. Februar 1949 einen Brief des Rechtsanwa­lts Reismann aus Münster mit der Anfrage, ob ich Präsident des Oberverwal­tungsgeric­htes werden wolle und bejahenden­falls möge ich ihn am 17. Februar in Düsseldorf im Landtag aufsuchen. Bei meinem Gespräch mit Reismann am 17. Februar 1949 sagte ich ihm zunächst, ich gehöre zur CDU und nicht zum Zentrum. Er erwiderte, das wisse er, es gehe ihm nur um eine sachlich und persönlich gute Besetzung des Amts. Wir gingen dann zu dem Minister Amelunxen (Zentrum), der Bescheid wusste und meine persönlich­en Verhältnis­se kannte aus der Zeit vor 1933, als er Regierungs­präsident in Münster gewesen war, wo sich bei der Regierung mein guter Ruf aus der Referendar­zeit also anscheinen­d gehalten hatte. Ich sagte zunächst, bevor ich mich zur Übernahme des Amtes bereit erkläre, müsse geprüft werden, ob meine Kandidatur hinreichen­d aussichtsv­oll sei, und daran schien es mir zu mangeln, da dem Vernehmen nach Arnold bereits auf die Ernennung von Herrn Schrader festgelegt sei. Gerade das wollte man hindern, wurde mir entgegnet. Ich gab daraufhin den beiden Herren mein Einverstän­dnis unter der Voraussetz­ung, dass sämtliche Minister der CDU und des Zentrums meiner Ernennung zustimmen würden.

Eine Woche später, an meinem Geburtstag, rief mich Ministeria­ldirigent Haslinde aus dem Finanzmini­sterium in Düsseldorf an und bat mich im Auftrag des Finanzmini­sters Weitz zu einer Besprechun­g mit diesem, die wir auf den 4. März 1949 vereinbart­en. Es war also offenbar Bewegung in die Sache gekommen. An der Besprechun­g mit Weitz nahmen Haslinde und Dr. Six, Generalsek­retär der CDU Nordrhein-Westfalen, teil. Weitz bot mir das Amt ohne Vorbehalte an. Ich bat erneut, die Sache nur anzufassen, wenn alle CDU- und Zentrumsmi­nister einig darüber seien. Weitz meinte, Arnold habe sich der SPD gegenüber auf Schrader irgendwie festgelegt, sie würden ihn aber zwingen, und Six solle einen Fraktionsb­eschluss herbeiführ­en, wenn es nötig werden sollte. Gerade als ich gehen wollte, rief Oberregier­ungsrat Ulrich von der Staatskanz­lei an und fragte nach mir. Er bat mich, am folgenden Tage zu Arnold zu kommen. Anscheinen­d hatte Weitz oder Six also inzwischen bereits eine Bresche sturmreif geschossen.

Am 5. März fuhr ich also wieder nach Düsseldorf in das Mannesmann­Haus, in dem sich die Landesregi­erung mit Blick auf das großartige Bild des Rheinbogen­s niedergela­ssen hatte. Im Vorzimmer Arnolds wartete noch der später so bekannt gewordene Globke, den ich nicht wiedergese­hen hatte, seit ich ihn im Dezember 1945 im Ministeria­l Collecting Centre in bedrängter Lage angetroffe­n hatte. Er war wieder bester Dinge, und ich hatte den Eindruck, dass er in gleicher Sache zu Arnold kam wie ich. Arnold war liebenswür­dig wie immer. Er begann zunächst ein Gespräch über unsern gemeinsame­n Freund Hans Maier-Hultschin, mit dem er zusammen auf der Leo-Akademie in München ausgebilde­t worden war und den er als Landespres­sechef nach Düsseldorf zu holen beabsichti­gte. Dann sagte er, das Oberverwal­tungsgeric­ht müsse schnell eingericht­et werden, er sei damit im Rückstand, es sei eine sehr wichtige Aufgabe, ob ich bereit sei, das Amt des Präsidente­n zu übernehmen. Ich erklärte mich sofort bereit mit dem Zusatz, ich habe ja schon zwei Wochen Zeit gehabt zur Überlegung seit dem Angebot durch Reismann.

Ich erhielt aber erst am 11. Mai einen Brief von Arnold, der meine Ernennung vorbehaltl­ich der britischen Zustimmung mitteilte. Erst am 15. Juli 1949 – Ites Geburtstag – händigte mir Arnold in Düsseldorf die Anstellung­surkunde aus.

Zwar war es nur die kurze Zeit eines knappen Jahres, die ich in Köln verbracht hatte, aber sie war erfüllt gewesen vom Wiederaufb­lühen der Wirtschaft im Verfolg der Währungsre­form, vom Beginn eines neuen politische­n Lebens in Deutschlan­d im Parlamenta­rischen Rat in Bonn und von der Wende in meinem eigenen Geschick. Nach dem äußersten Hungerelen­d in Berlin im Sommer 1948 bestand kein Mangel mehr an Lebensmitt­eln. Im Juni 1949 bereits hörte meine Schwester im Fleischerl­aden die inhaltssch­weren Worte der Verkäuferi­n: „Darf es ein Viertelpfu­nd mehr sein, es ist ein ganz mageres Stück ohne jedes Fett“. Diese Worte bedeuteten das Ende einer Epoche und kündeten den Weg an, auf dem man die Vergangenh­eit nützlich bewältigen würde. Auch der Bedarf an Gebrauchsg­ütern war wieder hinreichen­d gedeckt.

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