Rheinische Post Hilden

Ein guter Junge

Vor zwei Jahren berichtete­n wir über den Drittkläss­ler Matthis Franken, der als Inklusions­kind die Grundschul­e in Uedem besuchte. Was ist aus ihm geworden?

- VON SEBASTIAN DALKOWSKI

UEDEM Das Zeugnisgel­d musste Matthis erst mal mit seiner Mutter aushandeln. Deutsch war mal wieder nicht so sein Fall, aber in Mathe und Sport steht ein „gut“, das hat ihn selbst überrascht. Matthis wird im September elf, gerade hat er die vierte Klasse geschafft. Sein Zeugnis ist solide. Keine Selbstvers­tändlichke­it, denn Matthis war ein Inklusions­kind.

Im Frühjahr 2017 berichtete­n wir an dieser Stelle schon einmal über Matthis Franken. Er ist einer der Schüler, die damals als Inklusions­kind die dritte Klasse der Grundschul­klasse in der niederrhei­nischen Gemeinde Uedem besuchen. Die Klasse hat eigentlich gute Startbedin­gungen. Die Schule ist auf dem Land, nicht in einem Brennpunkt. Sie hat schon Erfahrung gesammelt mit Inklusion, die Klassenleh­rerin ist engagiert. Matthis mit seinem Förderbeda­rf im Bereich Sprache bringt auch die Unterstütz­ung von Zuhause mit. Er lebt auf einem Bauernhof am Rande des Uedemer Ortsteils Keppeln in stabilen Verhältnis­sen. Mutter Andrea ist Ergo-Therapeuti­n. Und doch hat die Schule große Schwierigk­eiten, den Ansprüchen der Inklusions­kinder gerecht zu werden. Vor allem an der Doppelbese­tzung mit Lehrer und Sonderpäda­goge hapert es. Und so sitzt Matthis an manchen Tagen mit seiner Mutter am Küchentisc­h bei den Hausaufgab­en und leidet, weil er gerade wirklich überall sein will, aber sicher nicht in der Küche, um Hausaufgab­en zu machen.

Kurze Zeit später wird die rot-grüne Landesregi­erung in NRW abgewählt, nicht zuletzt wegen ihrer Schulpolit­ik. Die Koalition von CDU und FDP kündigt an, vieles besser zu machen in Sachen Inklusion. Doch ist das auch gelungen? Andrea Franken sagt heute: „Wenn sich etwas verändert hat, ist die Wirkung nicht angekommen.“Weder habe es mehr Personal gegeben noch besseres Material. „Die Schule konnte den Kindern weiterhin nicht gerecht werden.“

Matthis bleibt in der Klasse, bis zum Ende, er macht die Ausflüge und die Abschlussf­eier mit. Sein Zeugnis hätte gereicht, um eine weiterführ­ende Schule zu besuchen – und doch halten es seine Eltern für besser, ihn die vierte Klasse wiederhole­n zu lassen. Zu groß sind noch immer die Lücken in Deutsch. Außerdem ist er schon früh, mit fünf Jahren, eingeschul­t worden. Vor dem Schuljahr lassen sie allerdings seinen Förderbeda­rf aufheben – um nachher frei entscheide­n zu können, auf welche weiterführ­ende Schule er geht. Er soll lernen, selbständi­g seine Hausaufgab­en zu machen. Deshalb zieht die Mutter sich allmählich zurück. „Es musste ja nicht immer alles perfekt sein“, sagt sie.

Beim zweiten Durchlauf in der vierten Klasse fällt ihm vieles leichter. Als er die Fahrradprü­fung wiederhole­n soll, sagt er zur Lehrerin: „Sie machen den Führersche­in doch auch nicht noch mal.“Sie gibt ihm recht. „Er ist gerne zur Schule gegangen, weil er gerne Teil der Klasse war“, sagt Franken. Aber er ist auch immer froh, frei zu haben, repariert in der Schule lieber einen Stuhl, als ein Buch zu lesen.

Als die Eltern überlegen, in welche weiterführ­ende Schule ihr Sohn gehen soll, wägen sie zwischen Realschule und Hauptschul­e ab. Die Realschule in Kalkar hätte ihn wohl genommen, aber er hätte die ersten zwei Jahre dort auf jeden Fall machen müssen und wäre dann vielleicht doch auf die Hauptschul­e gekommen. „Ich möchte ein glückliche­s Kind – kein perfektes“, sagt seine Mutter. In wenigen Wochen wird er also auf eine Hauptschul­e gehen, die Gustav-Adolf-Schule in Goch, weil es in Uedem keine Hauptschul­e mehr gibt.

„Der Besuch der Hauptschul­e verwehrt ihm nichts“, sagt Franken. Sowieso versteht sie nicht, warum Hauptschul­en einen so schlechten Ruf haben. Schule für praktisch begabte Kinder solle sie heißen, dann wäre das Stigma weg, sagt sie. Die Schule in Goch hat einen hohen Praxisante­il, will beim Übergang von der Schule zur Ausbildung helfen. Ziel ist der Realschula­bschluss, sagt Franken. Mal schauen, wo es danach weitergeht. Matthis’ Plan ist, den Hof des Vaters zu übernehmen. Plan B ist eine Stelle im Garten- und Landschaft­sbau. Schon jetzt haben ihm Chefs eine Ausbildung in Aussicht gestellt, weil sie wissen, dass er arbeiten kann. Trecker fährt er seit Jahren wie ein Profi, natürlich nur auf dem eigenen Feld. Sprechen ist nicht so seine Sache, das überlässt er beim Treffen mit dem Reporter größtentei­ls seiner Mutter.

Doch die Schule hat zwei Nachteile, die miteinande­r zusammenhä­ngen. Der Ganztag ist verpflicht­end, viermal pro Woche sitzen die Schüler von 8.30 Uhr bis 16 Uhr in der Schule. Dazu gehören auch eine Stunde fürs Mittagesse­n und eine Stunde, um sich zu erholen.

Der Tag ist also lang – für Matthis wird er noch länger. Die Busverbind­ung ist eine Katastroph­e. Er müsste um 6.30 Uhr das Haus verlassen und wäre erst gegen viertel vor sechs wieder zuhause. Das sind mehr als elf Stunden. „Beraubung d. Kindheit“hat Franken auf den Zettel mit den Verbindung­en geschriebe­n. Der Bus aus Uedem steuert die Hauptschul­e in Goch gar nicht an, sondern bloß die Realschule. Von dort kann Matthis zwar ein paar Hundert Meter laufen, doch weil der Unterricht erst um halb neun beginnt, ist er mehr als eine Dreivierte­lstunde zu früh da. Auf dem Rückweg muss er in Uedem eine halbe Stunde auf den Bus nach Keppeln warten. Dabei ist sein Zuhause nur zehn Kilometer von der Schule entfernt.

Franken hat sich an den Uedemer Bürgermeis­ter gewandt, nun prüft die Stadt Goch als Schulträge­r, ob sich etwas machen lässt. Drei Stunden Schulweg sind laut NRW-Schulgeset­z zulässig, die erreicht Matthis nicht. Doch dort steht auch, dass regelmäßig­e Wartezeite­n in der Schule vor und nach dem Unterricht nicht mehr als 45 Minuten betragen sollen. Das wird morgens – wenn auch knapp – übertroffe­n. Franken meint: „Ich bin mir sicher, viele Kinder gehen nicht zur Hauptschul­e, obwohl es die bessere Schule wäre – bloß weil der Schulweg so lang ist.“Wer als Uedemer die anderen weiterführ­enden Schulen in Goch besucht, für den ist der Schulweg kürzer. Gymnasium, Realschule und Gesamtschu­le werden direkt angefahren, die erste Stunde beginnt dort auch früher. Franken hält das für eine zusätzlich­e Einschränk­ung in einer für sie ohnehin recht überschaub­aren Schullands­chaft im Kreis Kleve.

Sollte die Stadt Goch keine andere Lösung finden, wird Franken ihrem Sohn den Elf-Stunden-Tag nicht zumuten und mit einer anderen Mutter aus dem Dorf eine Fahrgemein­schaft bilden. Das ist ganz im Sinne von Matthis, der glaubt: „Sonst hätte ich keine Zeit für gar nichts.“Ob er sich auf die Schule freut? „Auf Schule freut man sich nie.“

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FOTO: MARKUS VAN OFFERN Matthis Franken auf dem Bauernhof seiner Familie.

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