Ein guter Junge
Vor zwei Jahren berichteten wir über den Drittklässler Matthis Franken, der als Inklusionskind die Grundschule in Uedem besuchte. Was ist aus ihm geworden?
UEDEM Das Zeugnisgeld musste Matthis erst mal mit seiner Mutter aushandeln. Deutsch war mal wieder nicht so sein Fall, aber in Mathe und Sport steht ein „gut“, das hat ihn selbst überrascht. Matthis wird im September elf, gerade hat er die vierte Klasse geschafft. Sein Zeugnis ist solide. Keine Selbstverständlichkeit, denn Matthis war ein Inklusionskind.
Im Frühjahr 2017 berichteten wir an dieser Stelle schon einmal über Matthis Franken. Er ist einer der Schüler, die damals als Inklusionskind die dritte Klasse der Grundschulklasse in der niederrheinischen Gemeinde Uedem besuchen. Die Klasse hat eigentlich gute Startbedingungen. Die Schule ist auf dem Land, nicht in einem Brennpunkt. Sie hat schon Erfahrung gesammelt mit Inklusion, die Klassenlehrerin ist engagiert. Matthis mit seinem Förderbedarf im Bereich Sprache bringt auch die Unterstützung von Zuhause mit. Er lebt auf einem Bauernhof am Rande des Uedemer Ortsteils Keppeln in stabilen Verhältnissen. Mutter Andrea ist Ergo-Therapeutin. Und doch hat die Schule große Schwierigkeiten, den Ansprüchen der Inklusionskinder gerecht zu werden. Vor allem an der Doppelbesetzung mit Lehrer und Sonderpädagoge hapert es. Und so sitzt Matthis an manchen Tagen mit seiner Mutter am Küchentisch bei den Hausaufgaben und leidet, weil er gerade wirklich überall sein will, aber sicher nicht in der Küche, um Hausaufgaben zu machen.
Kurze Zeit später wird die rot-grüne Landesregierung in NRW abgewählt, nicht zuletzt wegen ihrer Schulpolitik. Die Koalition von CDU und FDP kündigt an, vieles besser zu machen in Sachen Inklusion. Doch ist das auch gelungen? Andrea Franken sagt heute: „Wenn sich etwas verändert hat, ist die Wirkung nicht angekommen.“Weder habe es mehr Personal gegeben noch besseres Material. „Die Schule konnte den Kindern weiterhin nicht gerecht werden.“
Matthis bleibt in der Klasse, bis zum Ende, er macht die Ausflüge und die Abschlussfeier mit. Sein Zeugnis hätte gereicht, um eine weiterführende Schule zu besuchen – und doch halten es seine Eltern für besser, ihn die vierte Klasse wiederholen zu lassen. Zu groß sind noch immer die Lücken in Deutsch. Außerdem ist er schon früh, mit fünf Jahren, eingeschult worden. Vor dem Schuljahr lassen sie allerdings seinen Förderbedarf aufheben – um nachher frei entscheiden zu können, auf welche weiterführende Schule er geht. Er soll lernen, selbständig seine Hausaufgaben zu machen. Deshalb zieht die Mutter sich allmählich zurück. „Es musste ja nicht immer alles perfekt sein“, sagt sie.
Beim zweiten Durchlauf in der vierten Klasse fällt ihm vieles leichter. Als er die Fahrradprüfung wiederholen soll, sagt er zur Lehrerin: „Sie machen den Führerschein doch auch nicht noch mal.“Sie gibt ihm recht. „Er ist gerne zur Schule gegangen, weil er gerne Teil der Klasse war“, sagt Franken. Aber er ist auch immer froh, frei zu haben, repariert in der Schule lieber einen Stuhl, als ein Buch zu lesen.
Als die Eltern überlegen, in welche weiterführende Schule ihr Sohn gehen soll, wägen sie zwischen Realschule und Hauptschule ab. Die Realschule in Kalkar hätte ihn wohl genommen, aber er hätte die ersten zwei Jahre dort auf jeden Fall machen müssen und wäre dann vielleicht doch auf die Hauptschule gekommen. „Ich möchte ein glückliches Kind – kein perfektes“, sagt seine Mutter. In wenigen Wochen wird er also auf eine Hauptschule gehen, die Gustav-Adolf-Schule in Goch, weil es in Uedem keine Hauptschule mehr gibt.
„Der Besuch der Hauptschule verwehrt ihm nichts“, sagt Franken. Sowieso versteht sie nicht, warum Hauptschulen einen so schlechten Ruf haben. Schule für praktisch begabte Kinder solle sie heißen, dann wäre das Stigma weg, sagt sie. Die Schule in Goch hat einen hohen Praxisanteil, will beim Übergang von der Schule zur Ausbildung helfen. Ziel ist der Realschulabschluss, sagt Franken. Mal schauen, wo es danach weitergeht. Matthis’ Plan ist, den Hof des Vaters zu übernehmen. Plan B ist eine Stelle im Garten- und Landschaftsbau. Schon jetzt haben ihm Chefs eine Ausbildung in Aussicht gestellt, weil sie wissen, dass er arbeiten kann. Trecker fährt er seit Jahren wie ein Profi, natürlich nur auf dem eigenen Feld. Sprechen ist nicht so seine Sache, das überlässt er beim Treffen mit dem Reporter größtenteils seiner Mutter.
Doch die Schule hat zwei Nachteile, die miteinander zusammenhängen. Der Ganztag ist verpflichtend, viermal pro Woche sitzen die Schüler von 8.30 Uhr bis 16 Uhr in der Schule. Dazu gehören auch eine Stunde fürs Mittagessen und eine Stunde, um sich zu erholen.
Der Tag ist also lang – für Matthis wird er noch länger. Die Busverbindung ist eine Katastrophe. Er müsste um 6.30 Uhr das Haus verlassen und wäre erst gegen viertel vor sechs wieder zuhause. Das sind mehr als elf Stunden. „Beraubung d. Kindheit“hat Franken auf den Zettel mit den Verbindungen geschrieben. Der Bus aus Uedem steuert die Hauptschule in Goch gar nicht an, sondern bloß die Realschule. Von dort kann Matthis zwar ein paar Hundert Meter laufen, doch weil der Unterricht erst um halb neun beginnt, ist er mehr als eine Dreiviertelstunde zu früh da. Auf dem Rückweg muss er in Uedem eine halbe Stunde auf den Bus nach Keppeln warten. Dabei ist sein Zuhause nur zehn Kilometer von der Schule entfernt.
Franken hat sich an den Uedemer Bürgermeister gewandt, nun prüft die Stadt Goch als Schulträger, ob sich etwas machen lässt. Drei Stunden Schulweg sind laut NRW-Schulgesetz zulässig, die erreicht Matthis nicht. Doch dort steht auch, dass regelmäßige Wartezeiten in der Schule vor und nach dem Unterricht nicht mehr als 45 Minuten betragen sollen. Das wird morgens – wenn auch knapp – übertroffen. Franken meint: „Ich bin mir sicher, viele Kinder gehen nicht zur Hauptschule, obwohl es die bessere Schule wäre – bloß weil der Schulweg so lang ist.“Wer als Uedemer die anderen weiterführenden Schulen in Goch besucht, für den ist der Schulweg kürzer. Gymnasium, Realschule und Gesamtschule werden direkt angefahren, die erste Stunde beginnt dort auch früher. Franken hält das für eine zusätzliche Einschränkung in einer für sie ohnehin recht überschaubaren Schullandschaft im Kreis Kleve.
Sollte die Stadt Goch keine andere Lösung finden, wird Franken ihrem Sohn den Elf-Stunden-Tag nicht zumuten und mit einer anderen Mutter aus dem Dorf eine Fahrgemeinschaft bilden. Das ist ganz im Sinne von Matthis, der glaubt: „Sonst hätte ich keine Zeit für gar nichts.“Ob er sich auf die Schule freut? „Auf Schule freut man sich nie.“