Aschenputtels Märchenschloss
Keine Frau kommt vorbei an diesem Schuh. Ob kicherndes Schulmädel oder hipper Teenie, junge Mutter oder reife Lady – niemand kann der Verlockung widerstehen, den nackten Fuß in das goldglänzende Schmuckstück zu zwängen. In der Hoffnung, dass ausgerechnet ihr dieser Schuh passen und sie des Prinzen Herz erobern möge. Wie einst das Aschenputtel im gleichnamigen Grimmschen Märchen.
Die wundersame Metamorphose vom Schmutzfink zur Prinzessin stünde in Moritzburg aber wohl kaum so im Fokus ohne den Film „Drei Haselnüsse für Aschenbrödel“und die wahrhaft liebreizende Libuše Šafránková in der Hauptrolle. Als die verschleierte Schöne vom Ball des Prinzen flieht, verliert sie auf dem Weg zu ihrem Pferd besagten Schuh. Auf der Osttreppe von Schloss Moritzburg.
Seit nunmehr 45 Jahren gehört der in tiefstem Winter gedrehte „Märchenfilm des Jahrhunderts“zur Weihnachtszeit wie Christstollen und Gänsebraten. Dabei machte er nicht nur seine Hauptdarsteller zu Stars, sondern auch die Kulissen. Vor allem Schloss Moritzburg – einer von vier Originalschauplätzen – wurde zum Wallfahrtsort für die Fans des deutsch-tschechischen Klassikers von 1973, die außerdem jeden Winter eine Ausstellung zum Film besuchen können.
Doch nicht allein deshalb ist Sachsens schönstes Wasserschloss eine Top-Attraktion. 1542 als Jagddomizil von Herzog Moritz errichtet, ließ Kurfürst August der Starke ab 1723 das Schloss prachtvoll umbauen – als angemessenen Rahmen für seine ausschweifenden Feste und Jagden. Unter Regie des genialen Zwingerarchitekten Matthias Daniel Pöppelmann entstand nicht nur das viertürmige Barockjuwel in Ocker und Weiß; er bettete es auch ein in die weitläufige Wasserund Parklandschaft, in deren künstlichen Teichen es sich bis heute allerliebst spiegelt.
Nicht weniger prunkvoll geht es drinnen zu. In sieben Sälen und über 200 Räumen stecken Schätze in Hülle und Fülle: kostbares Mobiliar aus Sachsen und Frankreich. Hauchzarte Porzellane aus China, Japan und Meißen. Mit Blattsilber und Goldlack verzierte Ledertapeten. Eine Jagdtrophäensammlung von Weltrang. Das Geweih eines urzeitlichen Riesenhirsches. Und der Superlativ schlechthin: das Federzimmer. Mit Prunkbett, Baldachin und Wandteppichen aus über einer Million bunten Vogelfedern – so etwas gibt es kein zweites Mal auf der Welt.
Ebenso spannend: all die pikanten Histörchen über den „fressenden, saufenden und hurenden“August und das höfische Treiben um diesen Ausbund an Lebens- und Leibeslust herum, mit denen jeder Rundgang zum vergnüglichen Exkurs wird. Etwa in der Mätressen-Galerie rund um die legendäre Gräfin Cosel, die sagenhafte 84 Jahre alt wurde – obwohl sie fast 50 davon im Arrest auf Burg Stolpen saß. Man erfährt, dass August gern schon mal Porzellanvasen beim Preußenkönig gegen Soldaten eintauschte. Lernt, warum die Redewendung „durch die Lappen gehen“ihren Ursprung in der Jagd hat. Oder staunt am Modell, dass das vorgeschriebene Maß für Wespentaillen am Hofe bei unfassbaren 47 Zentimetern lag.
Und das ist noch immer nicht alles. Nur einen Katzensprung per pedes oder per Kutsche entfernt lugt das Fasanenschlösschen aus dichtem Grün hervor. Ein zierliches, zweigeschossiges Rokoko-Schmuckstück von gerade mal 13,4 Metern im Quadrat. Das „Paradies in der Nussschale“gewährt täglich nur 80 Besuchern Einlass; für Menschenmassen ist dieser Solitär unter den deutschen Schlössern schlicht zu klein. So bleibt der Genuss der ganzen filigranen Pracht auch heute noch ein fast ebenso exklusives Vergnügen wie zu Ende des 18. Jahrhunderts.
Etwa zur gleichen Zeit wurde am benachbarten Großteich Bärnsdorf ein Hafen aus dem Wasser gestampft inklusive kühn geschwungener Mole
und Sachsens bis heute einzigem Leuchtturm. Hier vergnügten sich die Edlen vom Hofe bei Wasserfesten, Schiffsund Gondelfahrten und sogar gloriosen Seeschlachten mit hölzernen Fregatten und Komparsen.
Die nächste Überraschung: Auf der Schlossinsel kann man sogar wohnen – zumindest auf Zeit. Auf Gäste warten in diesem Fall fünf ehemalige Wachund Gondelhäuschen, die idyllisch am Ufer liegen. Diese Teichhäuser wurden zu exklusiven Ferienwohnungen umgebaut; hinter den originalen
Fassaden stecken moderne Appartements mit allem Pipapo und einem ungestörten Dreiseiten-Wasserblick. Die Vorteile liegen auf der Hand. Zum einen herrscht hier himmlische Ruhe. Zum zweiten kann man auch dann über und um das Gelände stromern, wenn die Tagesgäste längst noch nicht da oder schon wieder weg sind. Und nicht zuletzt sind es nur ein paar Schritte bis zu jenem ominösen Schuh auf der Treppe, der in Moritzburg noch immer für so viel Wirbel sorgt. Weil der Traum von Aschenputtel einfach unsterblich ist.