Die Angst vor „Operation Goldammer“
In Großbritannien zeichnet sich ein Brexit ohne Abkommen mit der EU ab. Die Folgen zeigt ein geheimes Regierungsdokument. Doch Premierminister Boris Johnson beharrt auf seiner Position.
LONDON Lange Lastwagenschlangen an den Häfen des Ärmelkanals, Verknappung von Medikamenten und Lebensmitteln, Zwangsschließung von Raffinerien, Proteste an der inneririschen Grenze – ein internes Dokument der britischen Regierung unter Premier Boris Johnson skizziert ein düsteres Bild für die Zeit nach dem möglichen Chaos-Brexit Ende Oktober. Der Regierungschef will diese Woche erstmals bei den engsten Verbündeten für eine Austrittsvereinbarung werben, ehe er am Wochenende am Rande des G7-Gipfels im französischen Biarritz mit US-Präsident Donald Trump zusammentrifft. Unterdessen fordern mehr als 100 Unterhaus-Abgeordnete den vorzeitigen Abbruch der Parlamentsferien.
Das umfassende Dossier mit dem Titel „Operation Goldammer“stammt aus dem Kabinettsbüro, das seit Johnsons Amtsübernahme vor knapp vier Wochen federführend für die Brexit-Planung zuständig ist. Der verantwortliche Minister Michael Gove zog die Echtheit der in der „Sunday Times“veröffentlichten Auszüge nicht in Zweifel, sprach aber von einem „Worst Case“-Szenario. Genau dies bestreiten die anonymen Quellen der als konservativ geltenden Sonntagszeitung: Es handele sich um „wahrscheinliche und plausible“Annahmen.
Planungen für den Fall „Goldammer“, also Großbritanniens EU-Austritt ohne Anschlussvereinbarung („No Deal“), gibt es bereits seit vergangenem Jahr, als die damalige Regierung von Johnsons Vorgängerin Theresa May noch den geordneten Austritt aus der EU verfolgte. Im vergangenen Winter war von der Rekrutierung von zusätzlichen 5000 Beamten die Rede, um die Notfallpläne umzusetzen. Weil das mit Brüssel vereinbarte Austrittspaket aus Vertrag und politischer Erklärung dreimal im Unterhaus scheiterte, setzt der neue Premier völlig auf „No Deal“. Einwände von Parteifreunden, darunter hochkarätige frühere Kabinettsminister, wischte der Regierungschef am Wochenende wütend vom Tisch: Wer öffentlich eine etwaige Blockade im Parlament diskutiere, verstoße „gegen das nationale Interesse“. London müsse den EU-Partnern glaubwürdig den Eindruck vermitteln, das Land sei zum chaotischen Austritt bereit.
Die Glaubwürdigkeit dieses Vorgehens kann Johnson diese Woche bei Besuchen in Paris und Berlin testen. Dort will der Premierminister keine neuen Ideen vorlegen, sondern Frankreichs Präsident Emmanuel Macron und die deutsche Kanzlerin Angela Merkel nachdrücklich auf die negativen Auswirkungen hinweisen, die der „No Deal“für das EU-Mitglied Irland hätte. Tatsächlich steht der grünen Insel ein massiver wirtschaftlicher Schock bevor, zudem drohen Unruhen an der bisher völlig offenen Grenze zu Nordirland. Hinter vorgehaltener Hand sprechen Verantwortliche im Londoner Regierungsviertel Whitehall davon, Irlands zukünftige Lage lasse sich am besten mit dem Vulgärausdruck „fucked” („im Arsch“) beschreiben.
Die Antrittsbesuche bei den engsten europäischen Verbündeten kommen ungewöhnlich spät. Vergangenen Monat hatten Johnsons Spindoktoren noch damit geprahlt, der neue Premier werde Paris und Berlin, und erst recht Brüssel, erst besuchen, wenn die EU den Briten ein neues Angebot vorlege. Insbesondere müsse die Auffanglösung für Nordirland, der
sogenannte Backstop, aus dem Vertragstext gelöscht werden. Dementsprechend hat London auch keine neuen Brexit-Verhandlungen initiiert. Auf dem Kontinent sowie in der irischen Hauptstadt Dublin beharrt man hingegen auf dem Backstop, der auch zukünftig die offene innerirische Grenze garantieren würde. Eine Umfrage unter der nordirischen Bevölkerung ergab am Wochenende eine klare Mehrheit (58 zu 42 Prozent) für den Backstop.
Ungünstig für Großbritannien ist dem „Goldammer“-Dokument zufolge allein schon der geplante Austrittstermin am Donnerstag, 31. Oktober. Anders als in katholischen Ländern Europas ist Allerheiligen auf der Insel kein Feiertag; die vorhergesagten Probleme würden also den Börsenhandel am wichtigsten internationalen Finanzplatz der Welt beeinflussen und einen Pfundsturz herbeiführen.
Aus dem Parlament sieht sich Johnson mit einer neuen Forderung konfrontiert: Mehr als 100 Abgeordnete aller Oppositionsfraktionen sowie einige Konservative plädieren für die vorzeitige Beendigung der Parlamentsferien, die planmäßig noch bis 3. September dauern. Diskutieren wollen die Parlamentarier nicht zuletzt über den „verstörenden Populismus“des neuen Regierungschefs.