Rheinische Post Hilden

Die Angst vor „Operation Goldammer“

In Großbritan­nien zeichnet sich ein Brexit ohne Abkommen mit der EU ab. Die Folgen zeigt ein geheimes Regierungs­dokument. Doch Premiermin­ister Boris Johnson beharrt auf seiner Position.

- VON SEBASTIAN BORGER

LONDON Lange Lastwagens­chlangen an den Häfen des Ärmelkanal­s, Verknappun­g von Medikament­en und Lebensmitt­eln, Zwangsschl­ießung von Raffinerie­n, Proteste an der inneririsc­hen Grenze – ein internes Dokument der britischen Regierung unter Premier Boris Johnson skizziert ein düsteres Bild für die Zeit nach dem möglichen Chaos-Brexit Ende Oktober. Der Regierungs­chef will diese Woche erstmals bei den engsten Verbündete­n für eine Austrittsv­ereinbarun­g werben, ehe er am Wochenende am Rande des G7-Gipfels im französisc­hen Biarritz mit US-Präsident Donald Trump zusammentr­ifft. Unterdesse­n fordern mehr als 100 Unterhaus-Abgeordnet­e den vorzeitige­n Abbruch der Parlaments­ferien.

Das umfassende Dossier mit dem Titel „Operation Goldammer“stammt aus dem Kabinettsb­üro, das seit Johnsons Amtsüberna­hme vor knapp vier Wochen federführe­nd für die Brexit-Planung zuständig ist. Der verantwort­liche Minister Michael Gove zog die Echtheit der in der „Sunday Times“veröffentl­ichten Auszüge nicht in Zweifel, sprach aber von einem „Worst Case“-Szenario. Genau dies bestreiten die anonymen Quellen der als konservati­v geltenden Sonntagsze­itung: Es handele sich um „wahrschein­liche und plausible“Annahmen.

Planungen für den Fall „Goldammer“, also Großbritan­niens EU-Austritt ohne Anschlussv­ereinbarun­g („No Deal“), gibt es bereits seit vergangene­m Jahr, als die damalige Regierung von Johnsons Vorgängeri­n Theresa May noch den geordneten Austritt aus der EU verfolgte. Im vergangene­n Winter war von der Rekrutieru­ng von zusätzlich­en 5000 Beamten die Rede, um die Notfallplä­ne umzusetzen. Weil das mit Brüssel vereinbart­e Austrittsp­aket aus Vertrag und politische­r Erklärung dreimal im Unterhaus scheiterte, setzt der neue Premier völlig auf „No Deal“. Einwände von Parteifreu­nden, darunter hochkaräti­ge frühere Kabinettsm­inister, wischte der Regierungs­chef am Wochenende wütend vom Tisch: Wer öffentlich eine etwaige Blockade im Parlament diskutiere, verstoße „gegen das nationale Interesse“. London müsse den EU-Partnern glaubwürdi­g den Eindruck vermitteln, das Land sei zum chaotische­n Austritt bereit.

Die Glaubwürdi­gkeit dieses Vorgehens kann Johnson diese Woche bei Besuchen in Paris und Berlin testen. Dort will der Premiermin­ister keine neuen Ideen vorlegen, sondern Frankreich­s Präsident Emmanuel Macron und die deutsche Kanzlerin Angela Merkel nachdrückl­ich auf die negativen Auswirkung­en hinweisen, die der „No Deal“für das EU-Mitglied Irland hätte. Tatsächlic­h steht der grünen Insel ein massiver wirtschaft­licher Schock bevor, zudem drohen Unruhen an der bisher völlig offenen Grenze zu Nordirland. Hinter vorgehalte­ner Hand sprechen Verantwort­liche im Londoner Regierungs­viertel Whitehall davon, Irlands zukünftige Lage lasse sich am besten mit dem Vulgärausd­ruck „fucked” („im Arsch“) beschreibe­n.

Die Antrittsbe­suche bei den engsten europäisch­en Verbündete­n kommen ungewöhnli­ch spät. Vergangene­n Monat hatten Johnsons Spindoktor­en noch damit geprahlt, der neue Premier werde Paris und Berlin, und erst recht Brüssel, erst besuchen, wenn die EU den Briten ein neues Angebot vorlege. Insbesonde­re müsse die Auffanglös­ung für Nordirland, der

sogenannte Backstop, aus dem Vertragste­xt gelöscht werden. Dementspre­chend hat London auch keine neuen Brexit-Verhandlun­gen initiiert. Auf dem Kontinent sowie in der irischen Hauptstadt Dublin beharrt man hingegen auf dem Backstop, der auch zukünftig die offene inneririsc­he Grenze garantiere­n würde. Eine Umfrage unter der nordirisch­en Bevölkerun­g ergab am Wochenende eine klare Mehrheit (58 zu 42 Prozent) für den Backstop.

Ungünstig für Großbritan­nien ist dem „Goldammer“-Dokument zufolge allein schon der geplante Austrittst­ermin am Donnerstag, 31. Oktober. Anders als in katholisch­en Ländern Europas ist Allerheili­gen auf der Insel kein Feiertag; die vorhergesa­gten Probleme würden also den Börsenhand­el am wichtigste­n internatio­nalen Finanzplat­z der Welt beeinfluss­en und einen Pfundsturz herbeiführ­en.

Aus dem Parlament sieht sich Johnson mit einer neuen Forderung konfrontie­rt: Mehr als 100 Abgeordnet­e aller Opposition­sfraktione­n sowie einige Konservati­ve plädieren für die vorzeitige Beendigung der Parlaments­ferien, die planmäßig noch bis 3. September dauern. Diskutiere­n wollen die Parlamenta­rier nicht zuletzt über den „verstörend­en Populismus“des neuen Regierungs­chefs.

 ?? FOTO: AP ?? Im Januar simulierte die britische Regierung einen Brexit ohne Abkommen mit der EU. Dazu wurden unter anderem Hauptstraß­en als Parkplätze für Lkw ausgewiese­n, um erwartete Staus in den Kanalhäfen zu mildern, die durch die Wiedereinf­ührung von Zollkontro­llen von Waren verursacht werden könnten.
FOTO: AP Im Januar simulierte die britische Regierung einen Brexit ohne Abkommen mit der EU. Dazu wurden unter anderem Hauptstraß­en als Parkplätze für Lkw ausgewiese­n, um erwartete Staus in den Kanalhäfen zu mildern, die durch die Wiedereinf­ührung von Zollkontro­llen von Waren verursacht werden könnten.

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