Rheinische Post Hilden

Akku voll, Konto nicht

Tausende E-Roller-Akkus müssen täglich aufgeladen werden. Dabei setzen Unternehme­n auch auf freie Mitarbeite­r, die sich selbst versichern und auf eigene Verantwort­ung arbeiten müssen. Ein Modell, das schon aus anderen Digitalber­eichen bekannt ist.

- VON CLEMENS BOISSERÉE

KÖLN Die Jogger laufen schon am Rheinufer, der Familienva­ter ist auf dem Weg zum Bäcker, als Sven am frühen Sonntagmor­gen seinen Kleinwagen an der Kölner Rheinufers­traße abstellt, den Kofferraum öffnet, drei elektronis­che Roller auslädt und am Straßenran­d aufstellt. Freiberufl­ich mache er das, erzählt er, als Nebenverdi­enst während des Studiums. Abends sammle er die Roller auf, lade sie daheim über Nacht im heimischen WG-Keller und stelle sie am nächsten Morgen wieder auf.

Seit Ende Juni stehen die ersten ERoller in Düsseldorf und Köln. Wer seither spät abends oder früh morgens durch die Stadt läuft, dem fallen Menschen auf wie Sven. Mal fahren sie Kleintrans­porter, mal Kleinwagen, manche nutzen sogar die Roller selbst, befestigen mehrere nebeneinan­der und rollen die 20 Kilo schweren und rund 1,20 Meter langen Gefährte zum nächsten Ladegerät.

Wer dieser Arbeit nachgeht, der bekommt von den E-Roller-Anbietern eine eigene Bezeichnun­g: „Juicer“, „Ranger“oder „Hunter“. Die englischen Jobtitel passen zum Stil der meist jungen Unternehme­n und ihrem hippen Geschäftsv­ersprechen: günstige, leicht zugänglich­e E-Mobilität für kurze Wege in staugeplag­ten Großstädte­n. Ein Euro Pauschale und 15 bis 20 Cent pro Minute kosten die E-Roller den Nutzer. Investoren sind von der Idee überzeugt, allein das Berliner Start-up „Tier“sammelte vor dem Start über 30 Millionen Euro. In Düsseldorf hat „Tier“bislang lediglich „Lime“als Konkurrent, in Köln stehen Roller von noch zwei weiteren Anbietern bereit: von „Voi“und „Circ“. Keiner der Anbieter macht genaue Angaben zur Flottengrö­ße, stattdesse­n ist stets von „einigen Hundert“Rollern die Rede. Man darf also davon ausgehen, dass in der Domstadt mittlerwei­le eine deutlich vierstelli­ge Anzahl der Geräte steht. Meistens stehen sie auf zentralen Plätzen oder einfach am Straßenran­d, manchmal landen sie aber auch in Gebüschen oder aber mitten auf der Einkaufsst­raße.

Für rund 40 Kilometer reicht der Akku eines E-Rollers, dann muss er von den Arbeitskrä­ften per App geortet, entsperrt, eingesamme­lt, aufgeladen und anschließe­nd wieder ausgeliefe­rt werden. Ein Job, der aufwendig, manchmal unwegsam und für die Unternehme­n unverzicht­bar ist. „Circ“stellt dafür Hilfskräft­e an, die mit einer eigenen Fahrzeugfl­otte ausgestatt­et sind. „Tier“arbeitet mit einem Logistikpa­rtner und sucht „Ranger“als Minijobber. „Lime“und „Voi“suchen „Juicer“oder „Hunter“, die sie als freie Mitarbeite­r beschäftig­en.

Für die Unternehme­n bietet vor allem Letzteres, das so genannte „Gig Economy“-Modell mit temporären Arbeitskrä­ften, zahlreiche Vorteile. „Freie Mitarbeite­r sind selbst dafür verantwort­lich, Beiträge zu Sozialabga­ben abzuführen und zum Beispiel Steuern zu zahlen“, erklärt Constantin von Köckritz, Fachanwalt für Arbeitsrec­ht der Kanzlei Abeln. „Es bestehen auch keine Urlaubsans­prüche oder Gehaltsans­prüche im Krankheits­fall.“Außerdem: „Man muss selbst für den notwendige­n Versicheru­ngsschutz sorgen, insbesonde­re für eine Krankenver­sicherung.“

Auf Anfrage unserer Redaktion gibt es kaum Details zu den Jobs: keine Angaben zum Verdienst, wenige Infos über die Vorschrift­en, Regeln und Rechte für freie Mitarbeite­r. Antworten gibt es bei einem Treffen von „Lime“für potenziell­e „Juicer“. Rund ein Dutzend überwiegen­d junge Menschen bekommt hier erklärt, wie die freie Mitarbeit funktionie­rt: dass man einen Gewerbesch­ein braucht, wo es den gibt und was bei der Steuer beachtet werden muss.

Die meisten Anwesenden warten auf diese, später folgende Informatio­n: Vier Euro bezahlt „Lime“in Köln aktuell pro eingesamme­ltem E-Roller. Die Bedingunge­n: Gesammelt werden kann jederzeit, über die App werden Roller mit leerem Akku angezeigt. Bei der Auslieferu­ng muss das Gerät zu mindestens 95 Prozent aufgeladen sein, ansonsten gibt es Lohnabzüge. Gleiches gilt, wenn der Roller nicht spätestens um acht Uhr morgens – also quasi zur Hauptverke­hrszeit – für potenziell­e Kunden wieder zur Verfügung steht. Defekte Roller können in zentrale Einrichtun­gen gebracht werden; das Einsammeln und Aufladen von intakten Geräten müssen die „Juicer“selbst organisier­en, mit dem eigenen Auto beispielsw­eise und gerne an der Steckdose in den eigenen vier Wänden. Zum Start gibt es vier Ladegeräte umsonst.

„Freie Mitarbeite­r unterliege­n keinem Kündigungs­schutz sowie sonstigen Arbeitssch­utzvorschr­iften wie dem Mindestloh­n“, erklärt Anwalt von Köckritz. Legal seien solche Abkommen aber, solange keine „persönlich­e Abhängigke­it“zwischen freiem Mitarbeite­r und Arbeitgebe­r entstehe. Von Köckritz: „Selbststän­dig ist, wer im Wesentlich­en frei seine Tätigkeit gestalten und seine Arbeitszei­t bestimmen kann.“Genau damit werben die Roller-Anbieter: selbstbest­immte Aufträge, flexible Arbeitszei­ten.

Student Sven lobt das Modell, es sei entspannte­r als manch andere 400 Euro-Job. Wer aber seinen Lebensunte­rhalt mit dieser Art Arbeit verdienen will, braucht mehrere Auftraggeb­er. Denn „Lime“wirbt zwar damit, „bis zu 100 Euro am Tag“zu zahlen. Doch vor allem zu Beginn sind die Einnahme-Möglichkei­ten arg reduziert: höchstens zehn Roller können Anfänger-„Juicer“gleichzeit­ig entsperren und laden, dafür gibt es von „Lime“maximal 40 Euro. Wer besonders aktiv und zuverlässi­g ist, für den erhöht sich die Zahl der maximal gleichzeit­ig ladbaren Roller auf bis zu 25 Geräte. Felix Röpke gehört zu den Mehrverdie­nern. Er ist mit einem Kleintrans­porter unterwegs. „Nur mit einem Auto würde es sich nicht lohnen“, sagt er. Bis zu 20 Roller sammelt Röpke auf seiner Tour. Geladen werden sie in einer Garage. Rund drei bis vier Stunden dauert der Ladevorgan­g, er kostet pro Roller rund 20 Cent. „Sprit- und Materialko­sten eingerechn­et, bleiben am Ende etwa drei Euro pro Roller“, sagt Röpke. Für ihn ist das auf Dauer zu wenig. „Aufwand und Ertrag sind zu gering. Wenn sich der Verdienst nicht bessert, höre ich wieder auf.“

Beim „Juicer“-Treffen in Köln kündigte „Lime“an, die Entlohnung flexibel anzupassen, beispielsw­eise, wenn besonders unwegsam abgestellt­e Roller am Stadtrand eingesamme­lt werden. Auf 4,50 Euro könnte der Lohn dann steigen.

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FOTO: BOISSEREE E-Scooter von „Lime“im Kofferraum eines Privatwage­ns.
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FOTO: BOISSEREE Infoblatt von Lime
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FOTO: SCHROETER Der E-Scooter Lime

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