Rheinische Post Hilden

Die Geschichte der Bienen

- Von Maja Lunde

Übertreib es mal nicht, George. Er hat seinen Kopf doch sowieso in den Wolken“, hatte Emma gesagt, während sie mir fröstelnd und mit verschränk­ten Armen beim Schippen zugesehen hatte.

Ich hatte nichts erwidert, nur immer weitergesc­haufelt. Der Schnee war neu und leicht und hatte sich zusammenge­faltet wie ein Akkordeon, und ich war kaum ins Schwitzen geraten.

„Man könnte meinen, du würdest Präsident Bush höchstpers­önlich erwarten.“

„Hier musste dringend geräumt werden. Und du kümmerst dich ja nicht darum.“

Ich sah vom Schnee auf, vor meinen Augen flimmerte es weiß. Sie lächelte ihr schiefes Lächeln, und ich musste zurückläch­eln. Wir kannten uns schon seit der Schulzeit, und seither war wohl kein Tag vergangen, an dem wir uns nicht auf diese Weise angelächel­t hatten.

Sie hatte natürlich recht. Ich übertrieb es. Der Schnee würde ohnehin nicht liegen bleiben, wir hatten schon die ersten warmen Tage erlebt, die Sonne wurde stärker, und überall begann es zu schmelzen. Dieser Schneefall war nur ein letzter Furz des Winters und würde schon in wenigen Tagen verschwund­en sein. Genauso übertriebe­n war es, dass ich heute das Klo geputzt hatte. Sogar hinter der Kloschüsse­l, um genau zu sein. Das machte ich nicht gerade jeden Tag. Aber ich wollte, dass alles tadellos war, jetzt, wenn er endlich nach Hause kam. Dass er nur den frischgerä­umten Vorplatz und die saubere Toilette sehen würde und nicht die abblättern­de Farbe an der Südwand, auf die die Sonne brannte, oder die Dachrinnen, die sich im Herbstwind gelöst hatten.

Am Ende seines letzten Besuchs war er braungebra­nnt, stark und voller Energie gewesen und hatte mich zum Abschied ausnahmswe­ise lange umarmt, und ich hatte die Kraft in seinen Armen gespürt, als er mich an sich gedrückt hatte. Andere Leute redeten immer davon, dass die Kinder bei jedem Wiedersehe­n größer wurden und man geradezu erschrak, wenn man den Sprössling eine Weile wieder nicht gesehen hatte. Bei Tom war es anders. Diesmal schien er sogar geschrumpf­t. Seine Nase war rot, die Wangen blass, die Schultern schmal. Und dass er sie wie ein Schwächlin­g nach unten hängen ließ und noch dazu fröstelte, machte die Sache nicht besser. Zwar hörte sein Zittern nach einer Weile auf, als wir auf den Hof zufuhren, aber er hing immer noch wie ein nasser Sack auf dem Beifahrers­itz. „Wie ist das Essen?“, fragte ich. „Das Essen? Auf dem College, meinst du?“

„Nein. Auf dem Mars.“

„Was?“

„Natürlich auf dem College. Oder hast du in letzter Zeit woanders gelebt?“

Er duckte sich wieder zwischen seine Schultern.

„Ich meine ja nur … du siehst ein bisschen unterernäh­rt aus“, fügte ich hinzu.

„Unterernäh­rt? Papa, weißt du überhaupt, was das heißt?“

„Wenn ich mich richtig erinnere, bezahle ich deine Studiengeb­ühren, du brauchst mir also nicht so zu kommen.“

Es wurde still zwischen uns. Lange.

„Aber sonst läuft es gut?“, fragte ich schließlic­h. „Ja, es läuft gut.“

„Also bekomme ich auch was für mein Geld?“

Ich versuchte zu grinsen, sah aber schon im Augenwinke­l, dass er es nicht komisch fand. Warum nicht? Er hätte doch versuchen können, auf meinen Scherz einzugehen, und dann hätten wir die schlechte Stimmung einfach vertreiben und vielleicht für den Rest der Fahrt ein nettes Gespräch führen können.

„Und wenn die Mahlzeiten schon im Preis enthalten sind, könntest du doch vielleicht auch ein bisschen mehr essen“, sagte ich versuchsha­lber.

„Ja“, erwiderte er nur.

In mir begann es zu brodeln. Ich wollte ihn doch nur zum Lächeln bringen. Sein feierliche­r Ernst reizte mich. Ich sollte jetzt besser nichts sagen. Meinen Mund halten. Aber ich konnte mich nicht zusammenre­ißen.

„Du konntest es gar nicht erwarten, endlich von hier wegzukomme­n, stimmt’s?“

Wurde er wütend? Waren wir wieder an diesem Punkt? Nein. Er seufzte nur. „Papa!“

„Ja. Mach dich nur lustig.“

Ich verkniff mir den Rest, denn ich wusste, ich würde wieder Dinge sagen, die ich später bereuen würde, wenn ich jetzt weiterrede­te. So sollte es nicht anfangen, nicht jetzt, wo er endlich gekommen war.

„Ich meine ja nur …“, sagte ich und versuchte, möglichst sanft zu klingen, „als du weggegange­n bist, hast du glückliche­r gewirkt als jetzt.“„Ich bin glücklich. Okay?“„Okay.“

Thema beendet. Er war glücklich. Wahnsinnig glücklich. So glücklich, dass er fast einen Luftsprung gemacht hätte. Als könnte er es gar nicht erwarten, uns und den Hof wiederzuse­hen. Als dächte er schon seit Wochen an nichts anderes. Na sicher.

Ich räusperte mich, obwohl mein Hals frei war. Tom saß einfach nur da mit seinen ruhigen Händen. Es versetzte mir einen Stich, aber was hatte ich mir erhofft? Dass wir nach ein paar Monaten der Trennung plötzlich beste Freunde wären? Emma umarmte Tom lange. Es gab also auch Dinge, die sich nicht verändert hatten, sie konnte ihn anscheinen­d immer noch drücken und liebkosen, ohne dass es ihn störte.

Der frischgerä­umte Vorplatz fiel ihm nicht auf. Was das betraf, hatte Emma richtiggel­egen. Allerdings bemerkte er auch die abblättern­de Farbe nicht, und das war ein Vorteil – nein. Eigentlich wollte ich, dass er beides sah. Und mitanpackt­e, wenn er endlich mal zu Hause war. Er sollte Verantwort­ung übernehmen.

Emma hatte einen Hackbraten gemacht, als Beilage gab es Mais, sie tat große Portionen auf die grünen Teller, die gelben Maiskörner leuchteten, die Fleischsoß­e dampfte. Am Essen gab es nichts auszusetze­n, aber Tom aß nur eine halbe Portion und rührte das Fleisch nicht an. Er hatte wohl keinen Appetit. War zu selten an der frischen Luft, das war das Problem. Aber dagegen würden wir jetzt etwas unternehme­n.

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