Herbst der Entscheidung
Mitte Oktober wollen Union und SPD Halbzeitbilanz ziehen. Das letzte Wort haben aber erneut die Delegierten des SPD-Parteitags.
BERLIN Es ist dieses eine Wort im Koalitionsvertrag, das im Herbst über das Bündnis von Union und SPD entscheiden wird. Die Sozialdemokraten rangen es in jener langen Winternacht im Januar 2018 der CDU und CSU schon während der Sondierungen ab. Stolz waren die damals bereits angeschlagenen Genossen darauf und fühlten sich abgesichert. Inzwischen ist es aber vor allem für ihre Kabinettsmitglieder mehr Fluch als Segen, dass ganz unten auf der letzten der 176 Seiten des Vertrags unter Punkt 6 steht: Evaluation. Danach nur noch ein Satz: „Zur Mitte der Legislaturperiode wird eine Bestandsaufnahme des Koalitionsvertrags erfolgen, inwieweit dessen Bestimmungen umgesetzt wurden oder aufgrund aktueller Entwicklungen neue Vorhaben vereinbart werden müssen.“Es steht da nichts von einem etwaigen Bruch der Koalition, sondern von möglichen neuen Vereinbarungen. Und dennoch wird es nun genau darum gehen: Ja oder Nein zur großen Koalition.
Spätestens Mitte Oktober wollen CDU, CSU und SPD gemeinsam Halbzeitbilanz ziehen. So hat es der Koalitionsausschuss am Sonntagabend beschlossen. Aber auch wenn sich die Spitzen auf die Erfüllung des Vertrags bis 2021 einigen können, das letzte Wort haben – wie schon beim Start der Koalition – wieder die Delegierten des SPD-Bundesparteitags. Und der ist im Dezember. Gewählt wird dort eine neue Parteispitze. Und je nachdem, wen die Mitglieder nach den 23 Regionalkonferenzen befürworten, wird es eine Vorentscheidung über die Groko geben. Das Ergebnis soll am 26. Oktober feststehen, wenn es keine Stichwahl gibt. Sonst soll das Votum spätestens Ende November vorliegen, das der Parteivorstand als bindend für den Kongress Anfang Dezember ansieht. Wenn die SPD nicht schon nach den Landtagswahlen im Osten angesichts schlechter Ergebnisse die Nerven verliert.
Parteichefs und Minister aller drei Koalitionspartner versuchen seit Wochen extern wie intern allen vor Augen zu führen, dass diese Koalition, deren frühzeitiges Ende schon ganz am Anfang prognostiziert worden war, viel besser sei als ihr Ruf. Sie zählen auf, was alles geleistet wurde – wenn manche Begriffe auch etwas infantil klingen mögen wie das „Gute-Kita-Gesetz“oder das „Starke-Familien-Gesetz“. Mehr Pflegestellen, mehr Hilfe für arme Kinder, mehr Mobilität, mehr Umweltschutz, mehr Wohnungen, besserer Mieterschutz, der Beschluss zum Kohleausstieg. Der Abbau des Solidaritätszuschlags kommt diese Woche ins Kabinett. Und große Vorhaben stehen kurz vor der Einigung wie das Klimaschutzpaket oder die Grundrente. Allerdings ist dabei noch mit Ruckeleien zu rechnen. Nichts und niemand ist perfekt, immer geht es auch noch besser. Aber das Wesen einer Koalition ist der Kompromiss. Das ist es, worauf die Beteiligten bis zu Kanzlerin Angela Merkel in jüngster Zeit immer wieder verwiesen haben: Ein Kompromiss ist grundsätzlich etwas Gutes und keine Niederlage. 100 Prozent bekommt man nur, wenn man allein regiert. Kritik der Opposition ist aber wichtig. So bezweifelt etwa Grünen-Fraktionschef Anton Hofreiter die Wirksamkeit der Beschlüsse zu Mieten und Wohnen vom Sonntagabend als „allenfalls halbgar“. Er verstehe nicht, warum die Koalition die Teilung der Maklerkosten als einen großen Wurf verkaufe, sagte er unserer Redaktion. „Richtig wäre es, das Bestellerprinzip einzuführen – wer den Makler bestellt, der zahlt komplett.“
Die CSU setzt die Koalition nun vorsorglich unter Zeitdruck: „Wir
müssen im nächsten Vierteljahr so viele Dinge wie möglich beschließen“, sagte Parteichef Markus Söder am Montag in Berlin. Für ihn ist in den Beschlüssen des Koalitionsausschusses vom Vorabend auch „der Wille zum Regieren erkennbar“geworden. Dass nun mit Finanzminister und Vizekanzler Olaf Scholz auch ein Befürworter der Koalition seine Bewerbung um den SPD-Vorsitz angemeldet habe, wertete er als gutes Signal.
Eine Analyse der Bertelsmann-Stiftung kommt übrigens zu dem Ergebnis, dass die Groko bereits Ende Juni 61 Prozent ihrer Versprechen aus dem Koalitionsvertrag vollständig oder teilweise umgesetzt oder zumindest substanziell in Angriff genommen hat. Die Vorgängerregierung hatte nach zwei Jahren lediglich 49 Prozent erreicht. Dass die Koalition in Umfragen trotzdem so schlecht abschneidet, erklärt sich die SPD unter anderem damit, dass die großen Fragen wie beim Klimaschutz nicht beantwortet sind. Ein kleiner Trost für die Sozialdemokraten: Unter den bereits eingereichten Fragen für die Regionalkonferenzen geht es viel um Klimaschutz und Daseinsvorsorge. Und weniger darum, dass die SPD die Koalition verlassen soll.