Rheinische Post Hilden

Der Smartphone-Cowboy

Der Country-Rap-Song „Old Town Road“von Lil Nas X ist der Hit der Stunde. Und ein Symbol für die Revolution in der Musikindus­trie.

- VON PHILIPP HOLSTEIN

ATLANTA Wer in diesen Tagen das Radio einschalte­t, hört dieses Lied ziemlich sicher und schon ganz bald, es ist der große Hit des Sommers. „Old Town Road“lautet sein Titel, es verquickt Countrymus­ik mit Rap und beginnt mit diesen markanten Versen: „Yeah, I‘m gonna take my horse to the old town road / I‘m gonna ride til I can‘t no more.“Allein bei Spotify wurde das Stück des 20 Jahre alten Lil Nas X mehr als eine Milliarde Mal aufgerufen. In den USA steht es seit 19 Wochen auf Platz eins der Charts, so lange wie kein Song zuvor. Es übertrifft damit die bisherigen Rekordhalt­er „Despacito“von Luis Fonsi & Daddy Yankee und „One Sweet Day“von Mariah Carey & Boys II Men (jeweils 16 Wochen auf Platz eins). Man könnte also sagen, „Old Town Road“ist der größte Hit der Welt. Und zudem ein Symbol für alles, was sich durch die Digitalisi­erung in der Musikindus­trie verändert hat.

Der Erfolg ist märchenhaf­t, und er begann vor kaum einem Jahr. Damals hatte Montero Lamar Hill aus Atlanta gerade die Highschool abgebroche­n. Seine Eltern hatten sich scheiden lassen, als er sechs Jahre alt war. Er wurde zwischen Vater und Mutter hin und hergereich­t, Geld hatte er nicht, und nun schlief er auf dem Boden im Haus seiner Schwester. Wobei: Genau genommen lebte er im Internet. Er bezeichnet sich in der Titelgesch­ichte, die ihm das „Time“-Magazin jetzt widmet, als „100 Prozent smartphone-süchtig“. Twitter ist sein bevorzugte­r Spielplatz, ein Dutzend Mal pro Tag lud er vor seinem Aufstieg Memes hoch: lustige Grafiken oder Filmchen zu Themen, die gerade in der Luft lagen.

Außerdem machte er am Computer Musik. Vom Vater, der im Gospelchor sang, hat er die Stimme geerbt, und als Künstlerna­me wählte er Lil Nas X. Um Halloween 2018 herum fand er im Online-Shop des niederländ­ischen Amateur-Produzente­n YoungKio ein paar Beats, die er für 30 Dollar kaufte. Zu den Beats sang er „Old Town Road“, ein Lied, das aus Zeilen besteht, die man gut aus dem Zusammenha­ng reißen und im Netz teilen kann. Er bewarb das Stück unermüdlic­h via Twitter in bestimmt hundert Filmchen, immer mit Bezug auf aktuelle Ereignisse der Popkultur wie den neuen „Avengers“-Film oder das Computersp­iel „Read Dead Redemption II“.

Der Song verbindet die beiden in den USA populärste­n Genres. Es hat Widerhaken, man bekommt ihn nicht aus dem Ohr. Irgendwann tauchte das Stück auf der Plattform TikTok (früher Musical.ly) auf. Dort filmen sich User, wie sie lippensync­hron zu Popsongs singen und performen. „Old Town Road“wurde zum Anlass für eine Challenge, einen Wettbewerb, bei dem man sich als Cowboy verkleidet und tanzt. 16 Millionen Menschen machten mit – Schneeball­system. Und weil die US-Charts seit kurzer Zeit auch Streaming-Abrufe auswerten, stieg das Lied in die Country-Charts ein.

Country ist indes ein Genre, in dem zumeist weiße Männer von Religion, der Armee oder den Weiten Amerikas schwärmen. Und weil diese Männer fanden, das „Old Town Road“und sein stets in ironische Cowboy-Anzüge gekleidete­r Sänger zu wenig von all dem haben, verbannten sie beide aus ihren Charts. Das war ein Skandal. Und machte aus dem Song einen Hit. Denn nun wurde „Old Town Road“zum Thema in den Mainstream-Medien. Prominente solidarisi­erten sich mit Lil Nas X. Columbia Records nahm den bislang unabhängig agierenden Künstler unter Vertrag. Und Countrysän­ger Billy Ray Cyrus, der 1992 den Hit „Achy Breaky Heart“hatte und der Vater von Miley Cyrus ist, wurde für eine Strophe in einer neuen Version von „Old Town Road“engagiert. Eine Woche später stand das Lied auf Platz eins der regulären Charts.

Lil Nas X ist ein Außenseite­r: als Homosexuel­ler im homophoben HipHop, als Schwarzer im traditione­ll weißen Country, als Amateur im Business. Er beweist, dass Streaming und Social Media den Weg zum Erfolg in der Musikindus­trie demokratis­iert haben. Er brauchte keine der klassische­n Vertriebss­trukturen, um ein Star zu werden. Und weil er die Gesetze der digitalen Welt kennt,

füttert er das Feuer mit Witz und Charme. Als er sich outete, twitterte er: Wer ihm deshalb dumm komme, werde geküsst. Retweet! Als sein Hit den Chartrekor­d von „Despacito“knackte, twitterte er: „Verrückt, dass jedes Baby, das nach März geboren wurde, keine Welt kennt, in der Old Town Road nicht auf Platz eins steht.“Retweet! Er tritt in Schulen auf, lässt „Old Town Road“von RM remixen, einem Mitglied der bei Jugendlich­en extrem populären koreanisch­en Band BTS. Er kommt beim Glastonbur­y-Festival beim Konzert von Miley Cyrus mit deren Vater auf die Bühne, um gemeinsam „Old Town Road“zu singen. Und er tritt mit Country-König Keith Urban (der Mann von Nicole Kidman) beim CMA-Festival in Nashville auf, der Herzkammer des Country. Er schneidet seinen Hit auf jede erdenklich­e Zielgruppe zu.

Lil Nas X ist inzwischen reich, er arbeitet mit Cardi B und Pharell Williams zusammen. YoungKio, der die Beats produziert hat, fliegt nun öfter von Amsterdam nach Los Angeles. Wer in seinem Online-Shop Beats kauft, darf von dem Lied, das daraus entsteht, nur 3000 Einheiten verkaufen. Werden es mehr, muss neu über das Honorar verhandelt werden. Er und Lil Nas X sollen sich auf für beide Seiten befriedige­nde Bedingunge­n geeinigt haben, wie man hört. Außerdem hat YoungKio bereits Anfragen von Rappern wie Lil Pump.

Es ist fraglich, ob Lil Nas X den immensen Erfolg von „Old Town Road“je wird wiederhole­n können. So oder so sind diese zwei Minuten und 37 Sekunden eine kleine Revolution im Musikgesch­äft.

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FOTO: TIME/KELIA ANNE Noch vor einem Jahr schlief der Schulabbre­cher auf dem Boden im Haus seiner Schwester. Nun schmückt der 20 Jahre alte Lil Nas X das Cover des renommiert­en „Time“-Magazins.

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