Rheinische Post Hilden

Der Bote treibt ein Stück voran

In unserer Serie widmen wir uns einem Kniff aus dem Theater.

- VON DOROTHEE KRINGS

In Shakespear­es Tragödie „Heinrich VI“sitzt eine Gruppe von Lords am Totenbett Heinrich V. Sie trauern, sind wie gelähmt. Kein guter Stoff fürs Theater. Doch dann lässt Shakespear­e nacheinand­er drei Boten auftreten. Sie berichten vom Verlust französisc­her Provinzen, vom Zusammensc­hluss eines Gegenheers, von der Niederlage des englischen Generals Talbot gegen die Franzosen. Lauter Unglücksbo­tschaften, doch sie bringen Bewegung ins Spiel. Die Lords können nicht länger herumhocke­n, sie müssen handeln. Das Stück nimmt Fahrt auf.

Der Botenberic­ht ist ein dramaturgi­scher Kniff. Er vermittelt Ereignisse, die auf der Bühne nicht darstellba­r sind, weil die Ereignisse schon zurücklieg­en und der Aufwand zu groß ist, etwa den Zusammensc­hluss eines Gegenheers in ausreichen­der Mannstärke in Szene zu setzen. Manchmal schrecken Theateraut­oren auch davor zurück, gewaltvoll­e oder pornografi­sche Szenen auf der Bühne Wirklichke­it werden zu lassen. Lieber lassen sie Boten davon berichten. Wobei diese Boten nicht unbedingt vom Pferd steigen und atemlos berichten müssen. Die Funktion eines Botenberic­hts können auch andere Figuren übernehmen.

Zu unterschei­den ist der Botenberic­ht von der Teichoskop­ie, der Mauerschau. Auch sie ist eine Technik, schwer darstellba­re Informatio­nen über mündliche Berichte in ein Stück zu laden. Und auch bei der Teichoskop­ie gibt es eine Figur, die etwas berichtet, das der Zuschauer nicht sieht. Doch kann sich bei der Mauerschau das Ereignis gerade erst zutragen. Eine erhöhte Position erlaubt es dem Beobachter, live davon zu erzählen. Es spielt sich in Sichtweite der Bühne ab.

Der Botenberic­ht dagegen trägt Vergangene­s oder weit Entferntes in ein Stück hinein. Er macht historisch­e Zusammenhä­nge klar und verschafft dem Zuschauer alle Informatio­nen, die er zum Verständni­s des Stückes braucht. Dieser Kniff wurde schon in der antiken Tragödie angewandt. Da war er auch nötig, denn nach der Poetik des Aristotele­s galt die Regel der Einheit von Ort, Zeit und Handlung. Das schloss Zeitsprüng­e, Ortsveränd­erungen und Nebenhandl­ungen aus. Alles, was außerhalb dieser Einheit geschah, musste also in das Stück hinein transporti­ert werden – mit Hilfe von Boten.

Der Botenberic­ht ist oft ein Einbruch von Wirklichke­it in ein Stück. Während die Figuren sich noch ihren Träumen, Erwartunge­n, Befürchtun­gen hingeben, erreichen sie Nachrichte­n darüber, was tatsächlic­h geschehen ist. So kann der Botenberic­ht mehr sein als die Lösung einer erzähleris­chen Verlegenhe­it. Er funktionie­rt wie ein Spiegel, manchmal wie eine Antithese, wie ein Beschleuni­ger oder eine Bestrafung. Gerade in den Werken, die Shakespear­e zugeschrie­ben werden, kann man den immer virtuosere­n Einsatz von Botenberic­hten studieren.

 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Germany