Der Bote treibt ein Stück voran
In unserer Serie widmen wir uns einem Kniff aus dem Theater.
In Shakespeares Tragödie „Heinrich VI“sitzt eine Gruppe von Lords am Totenbett Heinrich V. Sie trauern, sind wie gelähmt. Kein guter Stoff fürs Theater. Doch dann lässt Shakespeare nacheinander drei Boten auftreten. Sie berichten vom Verlust französischer Provinzen, vom Zusammenschluss eines Gegenheers, von der Niederlage des englischen Generals Talbot gegen die Franzosen. Lauter Unglücksbotschaften, doch sie bringen Bewegung ins Spiel. Die Lords können nicht länger herumhocken, sie müssen handeln. Das Stück nimmt Fahrt auf.
Der Botenbericht ist ein dramaturgischer Kniff. Er vermittelt Ereignisse, die auf der Bühne nicht darstellbar sind, weil die Ereignisse schon zurückliegen und der Aufwand zu groß ist, etwa den Zusammenschluss eines Gegenheers in ausreichender Mannstärke in Szene zu setzen. Manchmal schrecken Theaterautoren auch davor zurück, gewaltvolle oder pornografische Szenen auf der Bühne Wirklichkeit werden zu lassen. Lieber lassen sie Boten davon berichten. Wobei diese Boten nicht unbedingt vom Pferd steigen und atemlos berichten müssen. Die Funktion eines Botenberichts können auch andere Figuren übernehmen.
Zu unterscheiden ist der Botenbericht von der Teichoskopie, der Mauerschau. Auch sie ist eine Technik, schwer darstellbare Informationen über mündliche Berichte in ein Stück zu laden. Und auch bei der Teichoskopie gibt es eine Figur, die etwas berichtet, das der Zuschauer nicht sieht. Doch kann sich bei der Mauerschau das Ereignis gerade erst zutragen. Eine erhöhte Position erlaubt es dem Beobachter, live davon zu erzählen. Es spielt sich in Sichtweite der Bühne ab.
Der Botenbericht dagegen trägt Vergangenes oder weit Entferntes in ein Stück hinein. Er macht historische Zusammenhänge klar und verschafft dem Zuschauer alle Informationen, die er zum Verständnis des Stückes braucht. Dieser Kniff wurde schon in der antiken Tragödie angewandt. Da war er auch nötig, denn nach der Poetik des Aristoteles galt die Regel der Einheit von Ort, Zeit und Handlung. Das schloss Zeitsprünge, Ortsveränderungen und Nebenhandlungen aus. Alles, was außerhalb dieser Einheit geschah, musste also in das Stück hinein transportiert werden – mit Hilfe von Boten.
Der Botenbericht ist oft ein Einbruch von Wirklichkeit in ein Stück. Während die Figuren sich noch ihren Träumen, Erwartungen, Befürchtungen hingeben, erreichen sie Nachrichten darüber, was tatsächlich geschehen ist. So kann der Botenbericht mehr sein als die Lösung einer erzählerischen Verlegenheit. Er funktioniert wie ein Spiegel, manchmal wie eine Antithese, wie ein Beschleuniger oder eine Bestrafung. Gerade in den Werken, die Shakespeare zugeschrieben werden, kann man den immer virtuoseren Einsatz von Botenberichten studieren.