Die Geschichte der Bienen
Emma stellte eine Frage nach der anderen. Über die Schule. Die Lehrer. Fächer. Freunde. Mädchen. Bei letzterem Thema bekam sie nicht viele Antworten. Trotzdem plätscherte das Gespräch zwischen ihnen wie immer munter dahin, auch wenn sie mehr fragte, als er antwortete. So war es schon immer gewesen, ihnen gingen die Worte nicht aus. Sie plauderten und waren sich nahe, ohne dass es sie anzustrengen schien. Aber das war klar, schließlich war sie seine Mutter.
Sie genoss es, hatte rosige Wangen, den Blick immerzu auf Tom gerichtet, ihre Hände konnten nicht von ihm lassen, in ihren Fingern hatte sich über Monate die Sehnsucht angestaut.
Ich war die meiste Zeit still, versuchte zu schmunzeln, wenn sie schmunzelten, und zu lachen, wenn sie lachten. Nach dem Debakel im Auto wollte ich lieber nichts riskieren. Ich musste die passende Gelegenheit abwarten, um das sogenannte Vater-Sohn-Gespräch einzuleiten. Dieser Moment käme schon noch. Immerhin würde er eine Woche hierbleiben.
Also konzentrierte ich mich einfach nur auf das Essen und leerte meinen Teller. Immerhin einer an diesem Tisch wusste gutes Essen zu schätzen, ich wischte mit einem Stück Brot die letzte Soße vom Teller, legte das Besteck darauf und stand auf.
Aber da wollte auch Tom aufstehen, obwohl sein Teller noch fast voll war.
„Es hat gut geschmeckt“, sagte er. „Du musst aufessen, was deine Mutter für dich gekocht hat“, sagte ich möglichst ruhig, aber mein Ton geriet wohl trotzdem etwas scharf.
„Er hat doch schon ordentlich
gegessen“, entgegnete Emma beschwichtigend.
„Deine Mutter hat mehrere Stunden in der Küche gestanden.“
Genau genommen war das eine Übertreibung. Tom setzte sich wieder und hob die Gabel.
„Es ist doch nur ein Hackbraten, George“, sagte Emma. „So lange habe ich dafür nun auch wieder nicht gebraucht.“
Ich wollte protestieren. Sie hatte sich zweifellos große Mühe gegeben, und sie freute sich so, dass Tom wieder zu Hause war. Sie hatte es verdient, dass der Junge das auch zur Kenntnis nahm.
„Ich habe im Bus schon ein Sandwich gegessen“, sagte Tom zu seinem Teller.
„Du hast dich satt gegessen, kurz bevor du zu deiner Mutter gefahren bist? Hast du ihr Essen denn nicht vermisst? Hast du irgendwo sonst schon einmal einen so guten Hackbraten gegessen?“
„Schon gut, Papa. Die Sache ist nur, dass…“Er verstummte.
Ich sah Emma nicht an, denn ich wusste, dass sie mich mit zusammengepressten Lippen anstarrte und aus ihren Augen die Stoppschilder leuchteten.
„Die Sache ist nur was?“
Tom stocherte in seinem Essen herum.
„Ich habe aufgehört, Fleisch zu essen.“
„Hä?“
„Jaja“, sagte Emma schnell und räumte den Tisch ab. Ich blieb sitzen. Dann begriff ich.
„Kein Wunder, dass du schwächlich bist“, sagte ich.
„Wenn alle Vegetarier wären, gäbe es für alle Menschen auf der Welt genug zu essen“, erwiderte Tom.
„Wenn alle Vegetarier wären!“Ich äffte ihn nach und starrte ihn über so den Rand meines Wasserglases wütend an.
„Der Mensch hat immer schon Fleisch gegessen.“
Emma hatte die Teller und Schüsseln zu einem hohen Turm gestapelt. Er wackelte und klirrte bedrohlich.
„Jetzt lass ihn doch. Tom wird sich das schon gut überlegt haben.“„Das glaube ich nicht.“
„Ich bin schließlich nicht der einzige Vegetarier“, warf Tom ein.
„Auf diesem Hof wird Fleisch gegessen!“Ich stand so abrupt auf, dass der Stuhl umfiel.
„Jaja“, wiederholte Emma und räumte mit fahrigen Bewegungen weiter den Tisch ab.
Dabei warf sie mir einen dieser Blicke zu. Diesmal sagte er nicht nur: Stopp! Sondern auch: Halt endlich den Mund.
„Du hast doch keine Schweineproduktion“, hielt Tom mir entgegen.
„Was hat das damit zu tun?“
„Es spielt wohl keine Rolle für dich, ob ich Fleisch esse oder nicht. Solange ich weiterhin Honig esse.“
Er grinste. Wohlwollend? Nein. Ein bisschen frech.
„Hätte ich gewusst, dass du auf dem College so werden würdest, hätte ich dich nie dorthin geschickt.“Ein Wort ergab das andere, ich konnte mich nicht zurückhalten.
„Ach was. Es ist klar, dass der Junge aufs College gehen muss“, sagte Emma.
Natürlich. Klar wie die erste Frostnacht. Alle mussten aufs College gehen.
„Alles, was ich zum Leben brauche, habe ich hier gelernt“, erwiderte ich und machte eine vage Handbewegung, wollte eigentlich gen Osten zeigen, wo die Wiese mit einigen Bienenstöcken lag, und merkte zu spät, dass es Westen war.
Tom antwortete nicht mal. „Danke fürs Essen.“
Hastig räumte er seinen Teller ab und wandte sich Emma zu.
„Ich erledige den Rest auch noch schnell. Geh du nur und mach es dir gemütlich“, sagte er.
Sie lächelte ihn an. Zu mir sagte keiner etwas.
Beide wichen mir aus, sie, indem sie ins Wohnzimmer und zu ihrer Zeitung schlurfte, er, indem er sich eine Schürze umband, ja, das tat er wirklich, und die Töpfe zu schrubben begann.
Meine Zunge war wie eingetrocknet. Ich trank einen Schluck Wasser, aber es half kaum.
Sie machten einen Bogen um mich, ich war der Elefant im Porzellanladen. Nein, eigentlich nicht einmal das. Ich war ein Mammut. Eine ausgestorbene Art.
Tao
„Wenn ich drei Reiskörner habe und du zwei, wie viele haben wir dann zusammen?“
Ich nahm zwei Reiskörner von meinem Teller und legte sie auf WeiWens, der bereits leergegessen war.
Die Kindergesichter gingen mir nicht aus dem Kopf. Das große Mädchen mit dem zur Sonne gereckten Gesicht, der Junge mit dem weit aufgerissenen Mund. Sie waren noch so klein gewesen. Und Wei-Wen war plötzlich so groß. Bald wäre er im selben Alter wie sie. In anderen Landesteilen gab es Schulen für einige wenige Auserwählte. Sie sollten einmal Verantwortung übernehmen. Und sie entkamen der Feldarbeit.
(Fortsetzung folgt)