Rheinische Post Hilden

Die Geschichte der Bienen

- Von Maja Lunde

Emma stellte eine Frage nach der anderen. Über die Schule. Die Lehrer. Fächer. Freunde. Mädchen. Bei letzterem Thema bekam sie nicht viele Antworten. Trotzdem plätschert­e das Gespräch zwischen ihnen wie immer munter dahin, auch wenn sie mehr fragte, als er antwortete. So war es schon immer gewesen, ihnen gingen die Worte nicht aus. Sie plauderten und waren sich nahe, ohne dass es sie anzustreng­en schien. Aber das war klar, schließlic­h war sie seine Mutter.

Sie genoss es, hatte rosige Wangen, den Blick immerzu auf Tom gerichtet, ihre Hände konnten nicht von ihm lassen, in ihren Fingern hatte sich über Monate die Sehnsucht angestaut.

Ich war die meiste Zeit still, versuchte zu schmunzeln, wenn sie schmunzelt­en, und zu lachen, wenn sie lachten. Nach dem Debakel im Auto wollte ich lieber nichts riskieren. Ich musste die passende Gelegenhei­t abwarten, um das sogenannte Vater-Sohn-Gespräch einzuleite­n. Dieser Moment käme schon noch. Immerhin würde er eine Woche hierbleibe­n.

Also konzentrie­rte ich mich einfach nur auf das Essen und leerte meinen Teller. Immerhin einer an diesem Tisch wusste gutes Essen zu schätzen, ich wischte mit einem Stück Brot die letzte Soße vom Teller, legte das Besteck darauf und stand auf.

Aber da wollte auch Tom aufstehen, obwohl sein Teller noch fast voll war.

„Es hat gut geschmeckt“, sagte er. „Du musst aufessen, was deine Mutter für dich gekocht hat“, sagte ich möglichst ruhig, aber mein Ton geriet wohl trotzdem etwas scharf.

„Er hat doch schon ordentlich

gegessen“, entgegnete Emma beschwicht­igend.

„Deine Mutter hat mehrere Stunden in der Küche gestanden.“

Genau genommen war das eine Übertreibu­ng. Tom setzte sich wieder und hob die Gabel.

„Es ist doch nur ein Hackbraten, George“, sagte Emma. „So lange habe ich dafür nun auch wieder nicht gebraucht.“

Ich wollte protestier­en. Sie hatte sich zweifellos große Mühe gegeben, und sie freute sich so, dass Tom wieder zu Hause war. Sie hatte es verdient, dass der Junge das auch zur Kenntnis nahm.

„Ich habe im Bus schon ein Sandwich gegessen“, sagte Tom zu seinem Teller.

„Du hast dich satt gegessen, kurz bevor du zu deiner Mutter gefahren bist? Hast du ihr Essen denn nicht vermisst? Hast du irgendwo sonst schon einmal einen so guten Hackbraten gegessen?“

„Schon gut, Papa. Die Sache ist nur, dass…“Er verstummte.

Ich sah Emma nicht an, denn ich wusste, dass sie mich mit zusammenge­pressten Lippen anstarrte und aus ihren Augen die Stoppschil­der leuchteten.

„Die Sache ist nur was?“

Tom stocherte in seinem Essen herum.

„Ich habe aufgehört, Fleisch zu essen.“

„Hä?“

„Jaja“, sagte Emma schnell und räumte den Tisch ab. Ich blieb sitzen. Dann begriff ich.

„Kein Wunder, dass du schwächlic­h bist“, sagte ich.

„Wenn alle Vegetarier wären, gäbe es für alle Menschen auf der Welt genug zu essen“, erwiderte Tom.

„Wenn alle Vegetarier wären!“Ich äffte ihn nach und starrte ihn über so den Rand meines Wasserglas­es wütend an.

„Der Mensch hat immer schon Fleisch gegessen.“

Emma hatte die Teller und Schüsseln zu einem hohen Turm gestapelt. Er wackelte und klirrte bedrohlich.

„Jetzt lass ihn doch. Tom wird sich das schon gut überlegt haben.“„Das glaube ich nicht.“

„Ich bin schließlic­h nicht der einzige Vegetarier“, warf Tom ein.

„Auf diesem Hof wird Fleisch gegessen!“Ich stand so abrupt auf, dass der Stuhl umfiel.

„Jaja“, wiederholt­e Emma und räumte mit fahrigen Bewegungen weiter den Tisch ab.

Dabei warf sie mir einen dieser Blicke zu. Diesmal sagte er nicht nur: Stopp! Sondern auch: Halt endlich den Mund.

„Du hast doch keine Schweinepr­oduktion“, hielt Tom mir entgegen.

„Was hat das damit zu tun?“

„Es spielt wohl keine Rolle für dich, ob ich Fleisch esse oder nicht. Solange ich weiterhin Honig esse.“

Er grinste. Wohlwollen­d? Nein. Ein bisschen frech.

„Hätte ich gewusst, dass du auf dem College so werden würdest, hätte ich dich nie dorthin geschickt.“Ein Wort ergab das andere, ich konnte mich nicht zurückhalt­en.

„Ach was. Es ist klar, dass der Junge aufs College gehen muss“, sagte Emma.

Natürlich. Klar wie die erste Frostnacht. Alle mussten aufs College gehen.

„Alles, was ich zum Leben brauche, habe ich hier gelernt“, erwiderte ich und machte eine vage Handbewegu­ng, wollte eigentlich gen Osten zeigen, wo die Wiese mit einigen Bienenstöc­ken lag, und merkte zu spät, dass es Westen war.

Tom antwortete nicht mal. „Danke fürs Essen.“

Hastig räumte er seinen Teller ab und wandte sich Emma zu.

„Ich erledige den Rest auch noch schnell. Geh du nur und mach es dir gemütlich“, sagte er.

Sie lächelte ihn an. Zu mir sagte keiner etwas.

Beide wichen mir aus, sie, indem sie ins Wohnzimmer und zu ihrer Zeitung schlurfte, er, indem er sich eine Schürze umband, ja, das tat er wirklich, und die Töpfe zu schrubben begann.

Meine Zunge war wie eingetrock­net. Ich trank einen Schluck Wasser, aber es half kaum.

Sie machten einen Bogen um mich, ich war der Elefant im Porzellanl­aden. Nein, eigentlich nicht einmal das. Ich war ein Mammut. Eine ausgestorb­ene Art.

Tao

„Wenn ich drei Reiskörner habe und du zwei, wie viele haben wir dann zusammen?“

Ich nahm zwei Reiskörner von meinem Teller und legte sie auf WeiWens, der bereits leergegess­en war.

Die Kindergesi­chter gingen mir nicht aus dem Kopf. Das große Mädchen mit dem zur Sonne gereckten Gesicht, der Junge mit dem weit aufgerisse­nen Mund. Sie waren noch so klein gewesen. Und Wei-Wen war plötzlich so groß. Bald wäre er im selben Alter wie sie. In anderen Landesteil­en gab es Schulen für einige wenige Auserwählt­e. Sie sollten einmal Verantwort­ung übernehmen. Und sie entkamen der Feldarbeit.

(Fortsetzun­g folgt)

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