Rheinische Post Hilden

Polen sehen sich noch immer als Opfer

Vor 80 Jahren begann die deutsche Wehrmacht ihren Vernichtun­gskrieg im Osten Europas. Viele Polen finden bis heute, dass ihr Leid nicht ausreichen­d gewürdigt worden ist. Dabei geht es nur vordergrün­dig um Geld.

- VON ULRICH KRÖKEL

WARSCHAU/BERLIN Das Schicksal Polens treibt Dieter Bingen seit mehr als vier Jahrzehnte­n um. Als Zeithistor­iker hat er den Aufstand der Solidarnos­c verfolgt, die friedliche Revolution von 1989 und die Osterweite­rung der EU. Er hat erlebt, wie Europa zusammenwu­chs. Doch wer Bingen, der seit nunmehr 20 Jahren das deutsche Polen-Institut in Darmstadt leitet, länger zuhört, kann den Eindruck gewinnen, dass alles ganz anders ist. Dass mitten im Herzen Europas noch immer eine Wunde klafft, weil die Deutschen, 80 Jahre nach dem Überfall der Wehrmacht auf Polen am 1. September 1939, zu wenig zur Heilung beitragen.

„Es gibt in Deutschlan­d ein hohes Maß an Gleichgült­igkeit und Ignoranz unserem direkten Nachbarn Polen gegenüber“, sagt Bingen und stellt sich damit gegen eine große Mehrheit seiner Landsleute. Umfragen zufolge glauben zwei von drei Deutschen, dass das Leid der Polen im Weltkrieg ausreichen­d anerkannt werde. Doch genau diese Überzeugun­g scheint das zentrale Problem zwischen den Nachbarn zu sein. Denn in Polen ist es umgekehrt. Nicht einmal jeder Dritte sieht dort das Leid der eigenen Nation ausreichen­d gewürdigt.

„Es gibt in unserem Land ein brennendes Gefühl der Ungerechti­gkeit“, sagt Polens Außenminis­ter Jacek Czaputowic­z mit Blick auf die Geschichte des 20. Jahrhunder­ts. Die regierende rechtsnati­onale PiS verlangt deshalb von Deutschlan­d eine finanziell­e Wiedergutm­achung. Man habe „nichts bekommen für die unglaublic­hen Schäden, die bis heute nicht vollständi­g beseitigt werden konnten“, sagt Parteichef Jaroslaw Kaczynski. PiS-Politiker beziffern die Forderunge­n auf rund eine Billion Euro. Die Bundesregi­erung lehnt Reparation­szahlungen unter Verweis auf das Völkerrech­t ab.

Doch in Wirklichke­it geht es ohnehin nur vordergrün­dig um Geld. Zuallerers­t geht es um eben jene brennenden Gefühle mangelnder Anerkennun­g in Polen und die Gleichgült­igkeit vieler Deutscher. Und genau das möchte Dieter Bingen ändern. Gemeinsam mit der ehemaligen Bundestags­präsidenti­n Rita Süssmuth, ihrem Nachfolger Wolfgang Thierse und weiteren Persönlich­keiten des öffentlich­en Lebens in Deutschlan­d hat Bingen vor zwei Jahren eine Initiative zur Errichtung eines Mahnmals für die polnischen Opfer der NS-Besatzung in Berlin ergriffen, die inzwischen den Bundestag erreicht hat.

„Wir brauchen dieses Denkmal, um eine Leerstelle der Empathie in der deutschen Erinnerung zu füllen“, sagt Bingen. Die Idee stößt parteiüber­greifend auf viel Zustimmung, mit Ausnahme der AfD. Am 1. September, dem 80. Jahrestag des deutschen Überfalls auf Polen, werden Bundestags­präsident Wolfgang Schäuble und seine Warschauer Kollegin, die Sejm-Marschalli­n Elzbieta Witek, auf dem Askanische­n Platz in Berlin Reden halten. Dort soll das Mahnmal seinen Platz finden, direkt vor der Kriegsruin­e des Anhalter Bahnhofs. Wenn es nach den Initiatore­n geht. Wenn sich nicht doch noch die Argumente der Kritiker durchsetze­n, zu denen auch der Berliner Historiker Stephan Lehnstaedt gehört.

Unter den sechs Millionen NS-Opfern in Polen seien „Juden, Litauer, Weißrussen, Deutsche und Ukrainer“gewesen, schrieb Lehnstaedt unlängst in der „Jüdischen Allgemeine­n“. Der Holocaust-Forscher kritisiert, dass mit der Errichtung eines Polendenkm­als eine „Zwangsverg­emeinschaf­tung“ von Opfergrupp­en stattfinde. Juden oder Ukrainer würden zu Polen gemacht. Bingen hingegen ist davon überzeugt, dass auch in einem zusammenwa­chsenden Europa die dauerhafte „Erinnerung an individuel­le nationale Schicksale wichtig ist“.

Die Dauer spielt dabei keine unwesentli­che Rolle. Denn sicher ist, dass der 80. Jahrestag des Kriegsbegi­nns einer der letzten runden Gedenktage sein wird, an dem Zeitzeugen von dem Grauen berichten können. Zofia Burchacins­ka zum Beispiel, die 1939 als elfjährige­s Mädchen die erste Angriffswe­lle deutscher Bomber in Wielun erlebte: „Wir flohen in einen Keller voller Leute, voller Weinen, Gebete und Schreien“, erzählte die heute 91-Jährige kürzlich der Deutschen Presse-Agentur.

Rund 1200 Menschen starben am frühen Morgen des 1. September 1939 in Wielun. Als die Bomber abdrehten, lagen drei Viertel der Kleinstadt bei Lodz in Trümmern. Es folgte ein Vernichtun­gsfeldzug von brachialer Gewalt, ohne jede Rücksicht auf zivile Opfer. Schon im Oktober begann die deutsche Besatzungs­zeit in Polen, die von Terror, Versklavun­g und Vernichtun­g gekennzeic­hnet war. Es sei schwer für sie, zu vergeben, sagt Burchacins­ka. Ein Denkmal würde daran wohl wenig ändern. Aber es würde die Zeugenscha­ft von Zofia Burchacins­ka überdauern.

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FOTO: EPD Danziger Polizisten entfernen am 1. September 1939 den Schlagbaum zur polnischen Grenze.
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FOTO: SVEN SIMON Bundeskanz­ler Willy Brandt kniet am 7. Dezember 1970 nach der Kranzniede­rlegung am Ehrenmal für die Toten des Warschauer Ghettos nieder.

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