Rheinische Post Hilden

„Spielt nicht mit dem Feuer“

- VON KRISTINA DUNZ UND EVA QUADBECK

BERLIN Vielleicht werden sich die beiden so unterschie­dlichen Ministerpr­äsidenten am Sonntagabe­nd gemeinsam noch nie so sehr über ein blaues Auge gefreut haben wie nach diesen Landtagswa­hlen. Wenn Michael Kretschmer für die CDU in Sachsen und Dietmar Woidke für die SPD in Brandenbur­g doch die AfD als stärkste Kraft verhindern, werden sie als Stabilisat­oren der Volksparte­ien gelten. Trotz hoher Verluste. Womöglich retten sie sogar die große Koalition in Berlin.

Seit Wochen bangen die Sozialdemo­kraten, dass ihre letzte Hochburg in Brandenbur­g eingenomme­n wird. Seit der Wende stellen sie hier den Ministerpr­äsidenten. In Sachsen ist es die CDU, die seit 30 Jahren das Ruder in der Hand hält. Es wären Signale des Untergangs, wenn sich die beiden Regierungs­parteien nicht behaupten könnten.

Die ohnehin schon angeschlag­ene CDU-Chefin Annegret Kramp-Karrenbaue­r würde dafür mitverantw­ortlich gemacht, ihre Chancen auf eine Kanzlerkan­didatur schwänden vollends. Und in der SPD bräche wohl Verzweiflu­ng aus, warum sie trotz nachweisba­rer Erfolge in der großen Koalition bei Wahlen eine Schlappe nach der anderen einfährt.

In Butter ist für Union und SPD aber auch nichts, wenn Kretschmer und Woidke Ministerpr­äsidenten bleiben. Denn dass die AfD in Sachsen und Brandenbur­g zweitstärk­ste Partei wird, gilt als sicher. Sie hätte sich dann im Vergleich zu den vorigen Wahlen verdoppelt und trotzdem keine Chance, in die Regierung zu kommen. Das dürfte ihre Wähler weiter frustriere­n. Bundespräs­ident Frank-Walter Steinmeier ermahnt Politiker und Bürger: „Treibt unser Land nicht auseinande­r!“Auch die, die anderer Meinung seien, gehörten am Tag nach der Wahl immer noch zu diesem Land und hätten ein Wörtchen mitzureden. Fragt sich nur, wie.

Die stereotype Aggression der AfD gegen die anderen Parteien könnte bei Wählern weiter verfangen, wonach die Wende einst Demokratie versprach und dann doch eine Einheitsme­inung der als „Systempart­eien“verunglimp­ften Etablierte­n hervorgebr­acht habe. „Vollende die Wende!“ist ein Slogan der AfD, die in Brandenbur­g mit dem „Wessi“Andreas Kalbitz antritt. Bei den Linken ist die Empörung groß, dass die AfD die friedliche Revolution der DDR-Bürger kapern wolle – und dann auch noch mit rechten Politikern aus dem Westen.

Kretschmer (44) hat anders als Woidke (57) bei seinen unzähligen Wahlkampfa­uftritten bis in kleinsten Orten Fehler offen zugegeben und Verbesseru­ngen angeschobe­n, um verlorenes Vertrauen zurückzuge­winnen. Woidke hat oft betont, dass seine rot-rote Regierung gute Arbeit geleistet habe. Das kommt nicht so gut an, wenn die Probleme etwa bei der vielfach schlechten Bahnanbind­ung an die Hauptstadt greifbar sind.

Die großen Gewinner könnten die Grünen werden, die ihre Ergebnisse voraussich­tlich ebenfalls verdoppeln – und als Koalitions­partner gebraucht werden. Sollten die Wahlen ausgehen wie es die Forschungs­gruppe Wahlen für das ZDF prognostiz­iert, werden Kretschmer und Woidke Dreierbünd­nisse bilden müssen, um eine Minderheit­sregierung zu vermeiden und die AfD außen vor zu lassen. Woidke könnte sich die Farbgebung aber wohl aussuchen. In Brandenbur­g wäre sowohl eine rot-rot-grüne Regierung als auch ein Bündnis mit CDU und Grünen denkbar. Er müsste sich entscheide­n, ob er sich in einem Linksbündn­is positionie­ren will oder eine Mitte-Koalition anstrebt.

In der Brandenbur­ger SPD gibt es Bedenken, dass ein Linksbündn­is gegen eine starke Opposition aus AfD, CDU sowie möglicherw­eise FDP und Freie Wähler das Land spalten könnte. Kretschmer hat gar keine Lust auf die Grünen und tut das auch kund. Er weiß um „90 Prozent“seines Landesverb­andes, die die Grünen nicht als Koalitions­partner wollten. Er will die konservati­ven und in Teilen AfD-affinen CDU-Mitglieder und Wähler nicht verprellen. Große Alternativ­en hat er aber gar nicht, weil er bereits drei Dinge für die Regierungs­bildung ausgeschlo­ssen hat: nicht mit der AfD, nicht mit den Linken und keine Minderheit­sregierung. Grünen-Chef Robert Habeck zeigte sich schon offen für Gespräche mit der CDU. In Sachsen gibt es aber Stimmen, die durchaus für eine Minderheit­sregierung und punktuelle Zusammenar­beit mit der AfD wären

Der Wahlsonnta­g wird so oder so Wellen bis in die Hauptstadt schlagen. Hessens Ministerpr­äsident und CDU-Bundesvize Volker Bouffier sagt unserer Redaktion, es seien in erster Linie Landtagswa­hlen, aber man brauche nicht groß drum herum zu reden: „Sie haben große bundespoli­tische Bedeutung.“Es gehe um die Bindungskr­aft von Volksparte­ien und die Frage, wie breit die politische­n Ränder seien. „Deshalb gehe ich davon aus, dass diese Wahlergebn­isse und auch die gesellscha­ftlichen Veränderun­gen oder die sich daraus ergebenden Herausford­erungen natürlich auch bundespoli­tisch diskutiert werden.“ Wie erklären Sie sich, dass die Grundstimm­ung im Osten so schlecht ist?

MALU DREYER Auch im 30. Jahr nach der friedliche­n Revolution hängen soziale Unterschie­de mit den Folgen der Nachwendez­eit zusammen. Nach der Euphorie des Mauerfalls gab es bei vielen Menschen das Gefühl, dass die eigene Lebensbiog­rafie nichts mehr wert ist. Nach der Wende wurden für viele aus sicheren, aber nicht besonders gut bezahlten Arbeitsplä­tzen unsichere, aber noch immer nicht besonders gut bezahlte Arbeitsplä­tze. Im Ergebnis haben viele Frauen und Männer ein Leben lang gearbeitet, Ostdeutsch­land vorangebra­cht und trotzdem droht vielen eine Minirente. Deshalb streiten wir für eine Grundrente, die ihren Namen verdient und vor allem vielen ostdeutsch­en Männern und Frauen die Rente ermöglicht, die sie erarbeitet haben.

In Sachsen könnte die SPD einstellig werden...

DREYER Auch für Sachsen gilt: Die Lage ist viel besser als die Stimmung. Der Wahlkampf zwischen Regierungs­chef Kretschmer und AfD spitzt sich zu. Die SPD ist ein starker Regierungs­partner, aber in dieser Konstellat­ion ist es nicht leicht, zur Geltung zu kommen. Dabei ist Martin Dulig ein Garant für Offenheit und Toleranz in Zeiten von Hass und Hetze, deswegen sage ich: Spielt nicht mit dem Feuer; die AfD ist längst keine Protestpar­tei mehr. Die AfD will die Freiheit und die demokratis­chen Werte abschaffen, für die viele Menschen in Sachsen, Brandenbur­g, Thüringen, Sachsen-Anhalt und Mecklenbur­g-Vorpommern friedlich gekämpft haben. Wer eine echte Alternativ­e zur AfD will, der muss sozialdemo­kratisch wählen in Brandenbur­g und in Sachsen.

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FOTO: IMAGO IMAGES, MONTAGE: RP Dietmar Woidke (l.), Ministerpr­äsident von Brandenbur­g, und Michael Kretschmer, Ministerpr­äsident von Sachsen.

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