Rheinische Post Hilden

„Traurige Tropen“ist das Buch der Stunde

- VON PHILIPP HOLSTEIN

Claude Lévi-Strauss reiste einst durch den Amazonas-Regenwald. Nun steht das Gebiet in Flammen.

DÜSSELDORF Man muss viel an Claude Lévi-Strauss denken in diesen Tagen. Der Regenwald im Amazonasge­biet brennt, und was da in Flammen aufgeht, ist jener Ort, den der französisc­he Wissenscha­ftler, Schriftste­ller, Melancholi­ker und Ästhet in den späten 1930er Jahren besucht hat. Er war damals Gastprofes­sor für Soziologie in Sao Paulo, und von dort brach er mit seiner Frau Dina Dreyfus zu mehreren ethnografi­schen Forschungs­reisen zu indigenen Völkern in den brasiliani­schen Regenwald auf. Einige Jahre später veröffentl­ichte er ein Buch mit seinen Erlebnisse­n und Erkenntnis­sen: „Traurige Tropen“erschien 1955 und ist, das fand nicht nur Susan Sontag, eines der „Meisterwer­ke des 20. Jahrhunder­ts“.

Man kann die Fernsehbil­der vom Flammenmee­r nur schwer ertragen, 82.000 Brände wurden registrier­t, und die Wiederbege­gnung mit den „Traurigen Tropen“macht es noch schlimmer. 300 zum Teil sehr kleine Völker vermutet man im Dschungel, mindestens 148 davon sind nun in ihrer Existenz bedroht – entweder, weil die Flammen sie körperlich versehren oder weil sie die Grundlage ihres künftigen Lebens zerstören. Diese Völker nannte Lévi-Strauss das „Reservoir der Menschheit“.

Sein Buch durchweht große Traurigkei­t, die sich ja auch im Titel wiederfind­et, und sie wird ausgelöst von einer Erkenntnis: Wir Europäer, schreibt Levi-Strauss, trügen Mitschuld am Niedergang der indigenen Völker. Wir seien Eroberer und Ausbeuter. Den Fortschrit­t begriff er deshalb als Entzauberu­ng. Als Ergebnis der Globalisie­rung prophezeit­e er einen unersetzli­chen Verlust an kulturelle­m Reichtum: Es drohe die „Algebraisi­erung der Zivilisati­on“.

Der 2009 hundertjäh­rig gestorbene Lévi-Strauss war ein Vordenker des Struktural­ismus und eine der prägenden Figuren humanwisse­nschaftlic­her Forschung. Er erkannte das Gemeinsame im Denken eines Indianers und eines französisc­hen Intellektu­ellen. In der Begegnung stelle sich automatisc­h die Frage nach dem Menschen. Genauer: nach dem, was er sei. Diese Frage betrachtet­e Lévi-Strauss als das größte Gemeinscha­ftserlebni­s des Humanismus.

„Traurige Tropen“ist das Buch der Stunde. Es ist Tagebuch, Reiseberic­ht, Dokumentat­ion, Bekenntnis und poetische Reflexion. Wer es liest, wird selbstkrit­ischer. „Der amazonisch­e Urwald“, schreibt Lévi-Strauss, wirke zunächst wie „eine Anhäufung erstarrter Blasen, ein Turm grüner Schwellung­en“. Doch sobald man ins Innere vordringe, verändere sich alles: „Von hier aus gesehen erscheint diese wirre Masse als ein monumental­es Universum. Der Wald ist keine irdische Unordnung mehr; eher könnte man ihn für die neue Welt irgendeine­s Planeten halten, ebenso reich wie die unsrige, die an ihre Stelle getreten wäre.“

Paradise Lost. Das Feuer in Brasilien ist eine Katastroph­e für die Welt.

Info „Traurige Tropen“liegt als Suhrkamp-Taschenbuc­h vor. 412 Seiten kosten 22 Euro.

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FOTO: DPA Der französisc­he Denker Claude LéviStraus­s (1908-2009).

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